Sex with Hegel
Abstract:
Der Text schöpft sich aus meiner praktischen Erfahrung als Paartherapeutin in Berlin mit interkulturellen Paaren in oftmals offenen Beziehungen und entwickelt theoretische Bezüge – das Besondere wird also verallgemeinert, um dieses Allgemeine wiederum in der Praxis zu überprüfen. Der Text berührt daher nicht nur die Theorie, sondern eröffnet ganz praktische Fragen. (vgl. Marx, Thesen über Feuerbach).
Viele Menschen insbesondere der LGBTQI Community kommen nach Berlin, weil sie hier ihre Sexualität freier leben können und neue Lebensformen und Lebenszusammenhänge entwickeln. Die bisherige Paartherapie scheint daher mit dem psychoanalytischen Grundlagenwerk von Jörg Willi weiterhin höchst aktuell, muss jedoch auf neue Lebensformen angepasst und weiterentwickelt werden. Eine zu voreilige Pathologisierung von vielfältigen Lebensformen geht an der Realität vieler Menschen vorbei und muss überdacht werden. Daher gehört auch eine Rückkehr zum Perversionsbegriff von Freud oder ein nach vorne schauen zum Perversionsbegriff von Volkmar Sigusch, der resümiert, dass es so viele Sexualitäten auf der Welt wie Menschen gibt und die einzige Abgrenzung zur Pathologie durch die Nicht-Einvernehmlichkeit begründet wird.
Einleitung
In der Geschichte der Philosophie wurde über Jahrhunderte viel zum Freiheitsbegriff oder auch zum Begriff Dialektik geschrieben. Wie können uns nun die großen deutschen Philosophen dabei helfen, die Paarbeziehung besser zu verstehen.
Die Schriften von Hegel können durchaus eine Bereicherung sein, denn er hat sich beispielsweise Gedanken über das Denken gemacht, auch wenn diese Übung schon ein ziemlicher Luxus ist, weil man ohnehin schon so denkt. Das Werk Hegels kann teilweise jedoch affirmativ verstanden werden, denn er ging davon aus, dass im Denken nur die Vernunft wiedergefunden wird, die in der Welt waltet (Hegel, 1827). Anders gesagt wäre das so zu verstehen: weil es die äußere Realität gibt mit ihren jeweiligen Strukturen, ist sie auch vernünftig?
Seit Jahrhunderten gibt es nun die Institution Ehe, aber es sollte auch die Frage erlaubt sein: ist sie deshalb auch vernünftig? Seit Jahrhunderten gilt die Monogamie als Norm: aber ist sie deshalb auch vernünftig?
Selbst Freud war hier bereits einen Gedanken weiter in seinem topographischen Modell von Überich, Ich, Es und ging davon aus, dass sich das Subjekt durchaus sträubt aufgrund der Triebe oder der Normen und Moral die äußere Realität als diese anzuerkennen und stattdessen im ständigen Widerstreit zwischen den Kräften steht. Anna Freud hat das weiter exploriert in ihrer Schrift über das Ich und den Abwehrmechanismen.
Die Tatsache allein, dass es Normen und Regeln in der Welt gibt macht sie allein nicht richtig. Erst kürzlich hat Heenen-Wolf konstatiert, dass „die klassische psychoanalytische Theorie […] nicht mehr adäquat [ist], um neue zeitgenössische Formen psychosexueller Realität zu konzeptualisieren (Heenen-Wolf, 2018, S. 13). Sie beschreibt, dass ein normatives Verständnis die psychoanalytische Theoriebildung durchdringt und Konzepte daher auf die Vielfalt an Sexualitäten angepasst werden müssen. Dabei geht sie zum Beispiel auf die inzwischen überholte Normativität des Gegensatzpaares von aktiv und passiv ein, wobei ersteres dem Mann und letztes der Frau zugeschrieben wird, denn es gäbe ja jemanden der penetriert und jemanden der penetriert wird (Heenen-Wolf, 2018, S. 25). Konzepte des Penisneides ranken sich ebenfalls entlang einer defizitären Konstruktion des „Weiblichen“, was auch immer damit gemeint ist. Normen, die unser ganzes Leben durchdringen und somit auch die Psychoanalyse haben damit einen nicht unerheblichen Einfluss auf unser Selbstverständnis, auf die Art und Weise wie wir in Beziehung sind oder auch wie wir über uns selbst und andere nachdenken.
Wenn die Monogamie bisher die normative Lebensform ist, wieso befinden sich dann sehr viele Menschen zeitweise oder ständig auf Monogamie-Urlaub (vgl. Schott, 2014). Wenn ein Partner in einer Beziehung fremdgeht wird nicht von Polygamie gesprochen oder gar dem Ende der Monogamie. Auch wenn Singles mehrere Sexkontakte gleichzeitig haben, sind sie noch lange nicht polygam, sondern etwa nur auf Monogamie-Urlaub. Das sind schon einige „Widersprüchlichkeiten, die in der Realität liegen“ (Adorno, 2019, S. 23) und deshalb soll unbedingt ein Versuch basierend auf der hegelianischen Dialektik unternommen werden, diese nachzuvollziehen, bzw. aufklärerisch eine andere Perspektive zu entwickeln.
Wie kann Dialektik bei neuen Lebensformen helfen?
Wie lässt sich nun eine philosophische Debatte zur Freiheit auf die Paarbeziehung übertragen?
Die Freiheit des Einzelnen steht der Freiheit der anderen, des anderen gegenüber. Wenn also die Freiheit des Einzelnen die These ist, dann ist die Freiheit der anderen oder des anderen die Antithese.
Die Freiheit des Einzelnen hört an der Freiheit des Anderen nämlich auf. Was es braucht ist eine Verständigung darüber ohne juristische Bedingungen.
Nach Hegel findet die Aufhebung dieses Gegensatzes im Staat statt; in der Paarbeziehung bedeutet die Synthese schlichtweg das Aushandeln und Festlegen von Beziehungsvereinbarungen.
Nun hat sicherlich der Staat nicht ein unerhebliches Interesse an der Paarbeziehung, was die gesetzlichen Rahmenbedingungen zu Eheschließung, Scheidung oder auch Mutterschutz und Jugendschutz verdeutlich. Im Folgenden soll es jedoch um die Vereinbarungen, die Synthese der Freiheit des Einzelnen bzw. der Freiheit des anderen, gehen, die sich Paare selbst auferlegen. Damit ist Dialektik auch in seiner ursprünglichen griechischen Bedeutung als Dialogos – als Austausch (dia = zwischen, logos = den Wörtern) zu verstehen.
Feudalismus oder Égalité
Wenn die Paarbeziehung wie ein Königreich funktioniert und feudale Strukturen reinszeniert werden, dann gibt es zwei Könige*innen, in welcher Konstellation auch immer. Die Fülle an Filmen und Serien zum Hochadel symbolisieren eine große Sehnsucht und Träumerei ums eigene Königreich. Damit ist auch schon klar, dass es eine Hierarchie im Königreich gibt, denn die Anderen sind meist Mätressen oder Günstlinge, die weitaus seltener zum Zuge kommen. Besondere Macht-Dynamiken entfalten insbesondere solche Beziehungen, in denen die Partner Henry dem VIII. oder Katharina der Großen nacheifern. Die Asymmetrie in der Beziehung wird dadurch deutlich, dass es nur einem Partner möglich ist, seine_ihre Sexualität auch über die Beziehung hinaus auszuleben, dem_der anderen Partner_in droht Strafe, wenn sich Gleichheit gewünscht wird.
Vermutlich liegt der Vorteil des Feudalismus darin, dass damit die Intimität des Königspaares geschützt wird. Die Abgrenzung und der Protektionismus des Königpaares kann jedoch sogar soweit reichen, dass es kein Sex neben der Ehe oder nur One Night Stands geben darf, weil die Nebenbeziehungen als zu bedrohlich für das Königspaar erlebt werden.
Wenn man den Feudalismus als den einen Pol auf einem Kontinuum betrachtet, bildet den anderen Pol die Égalité der französischen Aufklärung, in der keine Hierarchie besteht, sondern alle gleichberechtigt miteinander in Beziehung stehen können. Diese Anarchie muss nicht in Chaos münden, sondern kann ein respektvolles Miteinander bedeuten von langjährigen Beziehungen, Affären oder One Night Stands.
Oftmals streben Paaren danach, frühere Erfahrungen aus ihren Familien zu reinszenieren, denn nichts erinnert so sehr wie an die eigene Familie wie eine Paarbeziehung (Willi, 1975). Daher ist eine nicht-hierarchische vielmehr egalitäre Beziehungskonstellation auch sehr viel schwieriger, denn woher soll schon der Mut dazu kommen.
Don’t ask – Don’t tell ! versus: Sharing is caring !?
Eine der Vereinbarungen, die sich Paare geben, kann sicherlich: Don’t ask, Don’t tell oder Sharing is caring. Ganz prinzipiell ist in diesem Zusammenhang sicherlich der Wunsch nach Kontrolle spürbar. Wenn man um alles weiß, dann kann nichts Schlimmes passieren. Oder auch ein, was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Viele Paare wollen sehr gut Bescheid wissen, was, wann und mit wem der Partner*in macht, denn es gibt Ihnen das Gefühl, immer noch alles in Kontrolle zu haben. Kein Weg ist hier besser als der andere, denn es gilt unterschiedliche Befindlichkeiten auszutarieren.
Right Timing !?
Eine der Vereinbarungen kann sich um die Grenzen drehen. Grenzen setzen fällt vielen Menschen schwer, sie auszuhandeln ebenso. Wenn beide Partner zusammenleben, der eine jedoch ständig seine Social Media Kanäle im Blick hat mit Dating Apps, Whatsapp, Instagram und Co. kann das Wut bei der anderen Person auslösen. Für viele Menschen gibt es ein natürliches Empfinden, wieviel Zeit sie mit der anderen Person, den anderen Personen verbringen möchten wie und wie sich die Intensität gestaltet. Auch hier spüren die Partner oft ohnehin, was ein guter Zeitrahmen ist oder was ihnen zu viel ist.
Space! Zu mir oder zu dir?
Der Regisseur Kim Ki Duk lässt in seinem Film „Frühling, Sommer, Herbst und Winter“ den weisen Mönch sagen: „Was dir gefällt, gefällt auch anderen.“ Eine Einladung nach Hause ins gemeinsame Nest muss damit nicht zwangsläufig verbunden sein. Die Frage ist hier, wie gestaltet sich alles ganz praktisch, werden Partys oder Räume bei anderen aufgesucht, leben beide getrennt oder gibt es ein gemeinsames Nest. Findet Dating nur außerhalb der gemeinsamen Wohnung statt oder leben alle ohnehin schon in ihren eigenen Domizilen.
Reproduktion !?
Wenn Kinder dazu kommen, wird alles komplizierter, weil es darum geht einen halt gebenden Rahmen zu schaffen. „30 Prozent aller Berliner Haushalte bestehen aus Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern. Von insgesamt knapp 100.000 Alleinerziehenden sind fast 90.000 Frauen.“ (Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung), daher ist es auch nicht verwunderlich, dass alleinerziehende Frauen in der Organisation ihres Liebeslebens vor besondere Herausforderungen gestellt sind.
Wann kann überhaupt ein Dating stattfinden zwischen Arbeit, den Kindern, dem Haushalt, Freud*innen und Familie? „Ein zentrales Problem des Freiheitsgedankens ist das Verhältnis von Fremd- und Selbstbestimmung bzw. von objektiver Bestimmtheit durch gesellschaftliche Verhältnisse und subjektiver Bestimmung in diesen Verhältnissen oder eben über diese Verhältnisse“ (Markard, 2003).
Da die Reproduktionsarbeit häufig den Frauen obliegt ist die Frage hier wie Beziehungen, in die sie gesetzt sind dazu beitragen, die „Verfügung über die eigenen und damit gesellschaftlichen Lebensbedingungen“ (Markard, 2003) zu erhöhen. Wie kann in Liebesbeziehungen Rücksicht genommen werden, wie kann Verantwortung übernommen werden, vor allem gesellschaftlich.
Der Text im Magazine for Sexuality and Politics von Anda Wurst zum Wechselmodell beschreibt einen Ausweg aus der Isolation der alleinerziehenden Frauen, auch alternative Wohnmodelle sind eine Möglichkeit und sicher Online Dating, aber die Benachteiligung der Frauen ausgesetzt sind wird auch dadurch zu wenig Abhilfe geschaffen. Auch gibt es durchaus Paare in offenen Beziehungen, die zusammenwohnen und sich die Kindererziehung teilen, dennoch bleibt das wohl eher noch die Ausnahme.
Resumé
Dieser Text war eine Replik auf die Dynamiken in Berlin und anderen Metropolen weltweit, in denen das Beziehungsgeflecht außer Band und Rand geraten ist. Menschen haben ihr Herzblatt noch nicht gefunden bzw. sind strategische Partnerschaften eingegangen und haben sich damit von ihrem Ursprungswunsch, die eine wahre Hälfte ihrer Selbst zu finden, entfernt. Dieser schmerzliche Prozess bestimmt das Dating in Berlin und kann nur weiter zu Pathologisierungen führen. Eine Heilung von Paarbeziehungen ist nur möglich, wenn Paare ihre strategische und kalkulierende Partnerschaft auflösen und sich auf die Suche nach ihrem Herzblatt begeben. Zu sehr bestimmen Anfeindungen die Paarbeziehungen in den Metropolen und es ist unerträglich, diese Geschichten zu hören.
Image: Unsplash: Jeison Higuita 2024
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