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Obdachlose Frauen – Von der Gesellschaft übersehen?

Ein Interview mit Teresa Riemann

Welche Frauen begegnen dir in deiner Arbeit in der Obdachlosenunterkunft in Berlin?

Das ist ganz unterschiedlich. Wir haben allerdings einen recht hohen Altersdurchschnitt, wir haben deutlich mehr Frauen über 50 als unter 50. Die Frauen kommen zu ca. 60 Prozent aus Deutschland, viele sind auch coronabedingt oder durch sich plötzlich auflösende soziale Beziehungen hier gestrandet. Es kommen Frauen aus Afrika, Amerika und Europa zu uns. Es gibt viele Osteuropäerinnen und Frauen aus dem arabischen Raum. Für die Ukrainerinnen, die vor dem Krieg fliehen, gibt es besser geeignete Unterkünfte, die verweisen wir weiter. Wir haben recht häufig schwangere Frauen, die meistens unter 30 sind, bei uns, die Hintergründe kennen wir nicht immer genau. Wir nehmen keine Minderjährigen auf, keine Tiere und keine Menschen, die stark drogenabhängig sind. Das schließt schon viele Frauen aus.

Wie kommt es dazu, dass Frauen obdachlos werden?

Frauen werden natürlich auch aus denselben nicht geschlechtsspezifischen Gründen obdachlos wie Männer. Dazu kommt, dass Frauen ihre Obdachlosigkeit oft verdeckt halten, ihre Verwandten und Freunde wissen also oft nicht, in welcher Situation sich die Betroffene befindet. Damit werden bestehende soziale Netzwerke oft nicht genutzt. Man könnte dahinter Scham vermuten. Bei den etwas älteren Frauen steht oft eine Zwangsräumung bzw. eine plötzliche Kündigung eines über lange Zeit bestehenden Mietverhältnisses im Vordergrund. Die Frauen beziehen eine geringe Rente mit eventueller Aufstockung durch das Sozialsystem und finden keine Wohnung, die sie damit bestreiten können bzw. deren Eigentümer*in die betroffene Frau als Mieterin akzeptiert.

Dann gibt es recht viele Fälle, in denen die Frau beim Partner wohnt, ohne dass sich durch diese Beziehungen irgendwelche (schriftlich festgehaltenen) Rechte für die Frau ergeben. Es gibt einen Streit, die Freundin wird auf die Straße gesetzt, auch wenn sie 75 Jahre alt ist und evtl. in medizinischer Behandlung. Oder der Hintergrund ist häusliche Gewalt. Die Frau flieht, während ihr Mann außer Haus ist, und hat dann kein Zuhause mehr. Sie verliert mit dieser Entscheidung ihr gesamtes, an ihren Mann gebundenes soziales und familiäres Netzwerk. Für diese Frauen sind wir eigentlich nicht der richtige Platz. Unsere Adresse ist nicht geschützt und wir sind eine Notunterkunft. Konkret heißt das, dass die Frauen sich zwischen 9:00 Uhr morgens und 19:00 Uhr abends draußen bzw. in anderen Einrichtungen aufhalten müssen. Wir haben nur nachts geöffnet und sind in diesem Sinne sicherlich kein Schutzraum. Für von häuslicher Gewalt betroffene Frauen gibt es Frauenhäuser, diese sind über die BIG-Hotline zu erreichen. Allerdings sind dort gerade am Wochenende oft alle Plätze voll und so kommen die Frauen doch erst einmal zu uns.

Dann gibt es viele Frauen, die mit irgendeinem Arbeitsversprechen nach Deutschland gekommen sind, das sich dann als doch nicht zutreffend oder akzeptabel herausstellt. Diese Frauen organisieren dann von hier aus ihre Papiere und treiben das Geld auf, um ihre Heimfahrt zu organisieren.

Tatsächlich gibt es auch viele Frauen, die einem geregelten Arbeitsverhältnis nachgehen und ein soziales Netzwerk haben. In diesen Fällen fehlt tatsächlich „nur“ das Angebot an preiswerten Wohnungen, ansonsten sind die Frauen optimal eingebunden.

Dann gibt es noch die Gruppe der psychisch kranken Frauen, die sicher die Hälfte der Frauen, die obdachlos sind, betrifft. Ich denke, dass bei ca. einem Drittel die psychische Erkrankung für die Obdachlosigkeit verantwortlich ist und es sich in diesen Fällen nicht um eine durch die Obdachlosigkeit verursachte oder um eine parallel bestehende Erkrankung handelt. Diese Frauen haben oft ein gutes soziales Netzwerk, das sie aber aufgrund ihrer Erkrankung nicht nutzen können. Sie haben oft auch Wohnungen oder standen vor ihrer Erkrankung in sicheren Arbeitsverhältnissen. Als hierfür gehäuft verantwortliche Erkrankung ist paranoide Schizophrenie mit einer akuten Psychose zu nennen. Die Frauen fühlen sich in ihren Wohnungen verfolgt bzw. erleben dort Dinge, die in der Realität nicht stattfinden, und trauen sich daher nicht dorthin. Es fällt ihnen auch besonders schwer, Hilfsangebote anzunehmen, da sie einerseits sehr misstrauisch sind und die Helfenwollenden schnell als zur Täterseite gehörend wahrgenommen werden. Gleichzeitig besteht ein starkes Ressentiment gegen psychologische Beratungen und psychiatrische Angebote. Dieses basiert oft auf der Angst, nicht ernst genommen zu werden sowie auf dem Störungsbild selbst, oft allerdings auch auf konkreten Psychatrieerfahrungen in der Vergangenheit, die als missbrauchend wahrgenommen wurden und für die Betroffenen reale Gewalterfahrungen sind.

Welche persönliche Geschichte von einer obdachlosen Frau hat dich am meisten berührt?

Da gibt es sicherlich weit mehr als eine Geschichte. Ich kenne auch nicht jede Geschichte, in erster Linie kommen die Frauen zu uns, um einen Rückzugsort zu haben, in Ruhe schlafen, essen und duschen zu können. Wenn mir eine Frau von sich aus nichts erzählt, hake ich auch nicht nach.

Ich erinnere mich an eine ganz junge Frau, die aus einer gewalttätigen Familie floh. Sie lebte seit mehreren Jahren in Berlin und hatte keine Ahnung, wo die zu ihrer Wohnung nächste S-Bahn-Station lag. Manchmal sind es scheinbare Details, die einen zusammenzucken lassen, sie muss hier wie eine Gefangene gelebt haben. Sie ist ein paar Tage bei uns, die Plätze in den Frauenhäusern sind alle belegt. Plötzlich ist sie weg und wir hören nie wieder von ihr. Wir können uns leider denken, was mit dieser Frau passiert ist.

Besonders berührt mich auch immer wieder, wenn mir die Frauen von Erlebnissen erzählen, die Teil einer Wahnfantasie sind. Teilweise fliehen sie seit Jahren von Stadt zu Stadt, es ist kein Ausweg in Sicht. Gleichzeitig sind die persönlichen Ressourcen der Frau klar erkennbar, doch es gibt keinen Weg, die Frau dazu zu bewegen, sich psychologische oder psychiatrische Hilfe zu suchen. Es tut weh mit anzusehen, wie die naheliegende Hilfe nicht nutzbar gemacht werden kann.

Macht dich das traurig oder wütend dieses Leid zu sehen?

In erster Linie beeindrucken mich die Frauen, die zu uns kommen, durch ihre starken Charaktere. Das Leid ist nicht das erste, was ich in ihnen sehe.

Traurig macht mich, wenn Frauen vom Krankenhaus zu uns geschickt werden, die unsere Kapazitäten übersteigen. Dass es an Personal mangelt und nicht genug Geld für Sozialarbeit aufgewendet wird, dass Menschen, die eine 24/7-Pflege benötigen und teilweise unheilbare körperliche Krankheiten haben, bei uns landen. Dass die Obdachlosenhilfe doch recht isoliert agiert. Dass es nicht gelingt, bestehende Hilfsangebote barrierefrei zugänglich zu machen.

Welche Hilfe benötigen die Obdachlosen, die die Stadt Berlin aktuell nicht anbietet?

Wie kann man ihnen besser helfen?

Es bräuchte mehr Einrichtungen, die 24/7 geöffenet haben und eine geringe Schwelle haben, ähnlich dem Happy Bed Hostel, das auf diesem Feld gerade die einzige Einrichtung darstellt. Es bräuchte eine bessere Zusammenarbeit von psychologischen und psychiatrischen Diensten mit der Obdachlosenhilfe. Es bräuchte ganz konkret mehr soziale Wohnungen.

Darüber hinaus lässt sich die Frage tatsächlich schwer beantworten, da die benötigte Hilfe von sehr individuellen Faktoren abhängig ist. Es gäbe vielfältige vorbeugende Maßnahmen, wie z. B. eine bessere Einbindung von Frauen mit Migrationshintergrund in die Gesellschaft, bevor es zu dem Punkt kommt, an dem die Frau in die Obdachlosigkeit gerät. Auch eine gerechtere Lohnverteilung bzw. eine höhere Rente für Frauen würde an dem heutigen Bild etwas ändern und die Frauen nicht derart abhängig von ihren Partnern machen.

Ich denke, dass Gewalterfahrungen, oft schon sehr früh, einer der Hauptrisikofaktoren für spätere Obdachlosigkeit darstellen. Hier lässt sich edukatorisch viel tun, wie das in den letzten zehn Jahren vermehrt geschah: Aufklärungsprogramme zu z. B. sexuellem Missbrauch in der Grundschule und Sensibelmachung der Lehrkräfte und Kindergärtner:innen für Anzeichen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt. Verbesserte Hilfsangebote für Opfer aber auch für Täter*innen, ein vermehrtes Hinsehen und eine den Individuen gesellschaftlich entgegengebrachte Wertschätzung könnten da viel verändern.

p.s.: Das Interview führte Susanne Schade.


Fotos: Startseite: Andreea Popa  / Header: Jonathan Kho  (unsplash)

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