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Kultur : Ein weites Feld

Felix Raffael

»Kultur« ist ein Begriff aus der Landwirtschaft. Er geht auf das altgriechische Wort für »Acker« zurück und bezieht sich auf Feldarbeit.

Ableiten lassen sich daraus verschiedene Aspekte, die verschiedenartig sind.

Da wäre etwa der Gedanke der Einwirkung auf etwas, der Beeinflussung von etwas: Mit dem Acker muss etwas geschehen, das er von sich aus nicht macht, das von einem Feld nicht zu erwarten ist.

Dann die Umwandlung: Aus einem Stück Land soll eine Plantage mit Nutzpflanzen werden.

Zusätzlich: die Vorstellung von Arbeit, die im Umgang mit dem Erdboden zu leisten ist. Wobei diese Arbeit wiederum Planung, Mühe, Regelmäßigkeit, Fachwissen, Systematik, Sorgfalt, Pflege und Zielgerichtetheit vereinigt.

Verbunden ist der Prozess der Beackerung aber ebenfalls mit der Zähmung von Wildnis. Die rohe, freie, unzuverlässige Erde soll tun, was der Bauer von ihr verlangt.

Erwartet werden vom Acker auch Ertrag und Nutzen. Die Erde soll etwas liefern, das gebraucht, verwendet oder verwertet wird.

Schon nicht mehr so vordergründig ist hier der Kontext der Rangordnung beziehungsweise der Macht: Der Bauer steht als Befehlshaber über dem gehorchenden Acker und ist ihm als Diener untergeordnet bei der Arbeit auf dem Feld. Interessant hierbei ist, dass Herrschaft und Unterwerfung sozusagen in Personalunion zusammengehen …

Etwas Merkwürdiges gibt es außerdem noch: Durch Beackerung lässt sich Natur zu Künstlichkeit verleiten. Aus der natürlichen Wiese wird das ordentliche Feld, das die Natur nie vorgesehen hat.

In intellektueller Hinsicht ist also das Landleben alles andere als primitiv.

Beschäftigen wir uns aber heute mit Kultur, stellen wir verblüfft fest, dass sie sich stark von der Landwirtschaft emanzipieren konnte. Vor 9 000 Jahren mag ein bebautes Feld für Kultur gesorgt haben. Mittlerweile hält man den Ackerbau für eher unkultiviert. Man kann ziemlich leicht behaupten, dass die Kultur in die Stadt gezogen ist. (Es zieht nicht allein Jugendliche in die Metropolen.)

Vor allem hat die Kultur dadurch das Merkmal der Eleganz zugesprochen bekommen. In der modernen Welt wäre es unsinnig, von einer »Kulturveranstaltung« zu sprechen und sie als »grob und rüde« zu titulieren. Kultur hat elegant zu sein. Man stellt sie sich als feines, hochwertiges Destillat vor, das durch Auslese der besten Ingredienzien gewonnen wird, ein erhabenes Kondensat. Kultur ist etwas wert, sie wertet auf. Auf die Beschaulichkeit von Scholle und Pflug lässt sie sich nicht länger beschränken. Man findet sie »standesgemäß« in Museen, Galerien, Konzertsälen, Opernhäusern, Schlössern, Villen, Palästen, Universitäten, Kirchen und Tempeln, Bibliotheken, Manuskripten, Buchbänden, Salons, Nobelrestaurants. Ihr »Anstrich« ist elitär.

»Und doch: Das ist es nicht allein«: »In grauer Vorzeit« war die Kultur eine bäuerliche Strategie, durch welche sich das Leben bequemer gestalten ließ; die Bewirtschaftung von Ackerflächen machte es im Zusammenhang mit der Vorratswirtschaft möglich; die Kultur genügte sich als Versorgungstechnik; im Lauf der Zeit hat die Kultur sich jedoch verfeinert und sich selbst derart entwickelt, dass sie ganzen Gesellschaften zu exquisitem Selbstausdruck verhalf. Demnach begann das soziale Gefüge mithilfe von Kultur sich selbst darzustellen. Es malte sozusagen von sich selbst ein schmeichelhaftes Porträt.

So bildet Kultur die Gesellschaft ab und verschönert sie nun. Gemäß der psychologischen Terminologie wäre Kultur auf dieser Stufe die leicht narzisstische Ich-Repräsentation einer Gesellschaft. Das expressive Kriterium des Selbstausdrucks erschöpft die gesellschaftliche Dimension des »erweiterten Kulturbegriffs« nicht. Das heißt: Durch Kultur bringt die fortgeschrittene Gesellschaft nicht einfach sich selbst zum Ausdruck – verbunden damit verleiht sie sich ein besseres, wirkungsmächtigeres Ansehen.

Doch wenn wir uns anschauen, wie die avancierte Gesellschaft innerhalb des Kulturbereichs ein solches Ergebnis erzielt, müssen wir uns gewissermaßen wieder an die (ein wenig verschriene) Landwirtschaft wenden, um anhand der Agrarproduktion die Eigenart der Kulturhervorbringung zu bestimmen.

Insofern sind wir erneut bei den alten Stichworten, die wir bereits notiert haben.

Einmal mehr ist über Einwirkung und Beeinflussung zu sprechen: Zur Herstellung von Kulturgütern nimmt die Gesellschaft sich selbst oder ihre Lebenswirklichkeit als Material, mit dem etwas geschehen soll. Dieses Material darf nicht bleiben, was es ist: Es soll eine Umwandlung erfahren. Die Umwandlung läuft nicht automatisch an oder ab: Sie ist durch Arbeit am Material zu steuern. Derartige Arbeit erfordert Planung, Mühe, Regelmäßigkeit, Fachwissen, systematisches Vorgehen, Sorgfalt, pfleglichen Umgang und ein Ziel. Bevor die Arbeit beginnt, ist das zu bearbeitende Material roh, im Ergebnis der Bearbeitung ist seine Wildheit gezähmt, gebannt, kanalisiert. Nun kann sich das Kulturgut nützlich machen und Ertrag abwerfen, Gewinn »einfahren«. Im Verhältnis zu ihrer Arbeitsgrundlage sind die Kulturschaffenden Herren und Diener zugleich: Sie legen fest, was mit dem Material geschieht, richten sich aber nach dessen Beschaffenheit und den Erfordernissen, welche die Bearbeitung mit sich bringt. Seiner Natur nach ist das entstandene Kulturgut künstlich, da es sich nicht durch das eigene Verhalten des Materials ergeben hat, sondern durch fremden Willen, fremdes Können und fremde Leistung. Dass das Kulturgut elitär und elegant ist und sich in seiner Gestalt die Gesellschaft selbst überhöht repräsentiert, ist dagegen einer Dynamik und Interaktion geschuldet, die zumindest für fortgeschrittenere Gesellschaften natürlich sind.

Als Beispiel mag uns Leonardos Mona Lisa dienen.

Die Basis des berühmten Gemäldes: Holz, Ölfarbe, eine Patriziertochter aus Florenz, eine toskanische Landschaft. Die Umwandlung: Das Holz wird zur bemalten Fläche, die Ölfarbe gerinnt zu gemalten Gebilden, die privilegierte junge Frau erstarrt zur flächigen Büste und büßt ihre Augenbrauen ein, die toskanische Landschaft endet vernebelt als schemenhafte Fata Morgana. Die geleistete Arbeit: Holz zuschneiden, Grundieren, das Modell betrachten, an die Komposition denken, Zeichnen, Malen, Firnis auftragen. Die Arbeit hat Leonardo Planung und Mühe gekostet, ohne Spezialkenntnisse hätte er die Mona Lisa nicht malen können, mit seinem Bild musste er systematisch, sorgfältig und pfleglich umgehen, sein Bild im Endzustand war ein Ziel, das der Künstler verfolgte. Vor dem Bild genossen das Holz, die Farbpigmente, die Gioconda und die toskanische Landschaft ungebändigte Bewegungsfreiheit – im Bild sind sie fixiert und zur Unbeweglichkeit verurteilt. Das Bild nutzte seinen Besitzern, indem es sie verherrlichte und ihr Vermögen mehrte. Leonardo gebot wie ein König seinem Bild und bediente es wie ein Knecht. Er hatte Macht über das Bild, das Bild hatte Macht über ihn. Mit dem Bild entfernte sich der Maler von der Natur und erschuf ein Kunstprodukt. Das Bild strahlt allein schon durch das diskrete Lächeln der Mona Lisa eine lässige Eleganz aus. Es befindet sich in einem der herausragendsten Museen der Welt – dem Pariser Louvre. Sein unschätzbarer Wert verwandelt es in ein außerordentliches Luxusgut. Leonardos Erzeugnis ermöglichte es der Renaissancegesellschaft, ihre Bürger über die Heiligen der Kirche zu stellen, und es verschaffte den nachfolgenden Gesellschaften die Möglichkeit, sich als kultivierte Galeristen zu geben und eine gewisse innergesellschaftliche Erotik zu zelebrieren, die man schmeichelhaft fand.

Dabei ist die Kultur bei den Materialien großzügig. Manche von ihnen sind luftig wie die Sprache, andere stofflich wie der Marmor, dritte vergänglich wie das Essen.

Hieraus erklären sich die recht vielen Wortkombinationen mit »Kultur« als Einschluss: »Wohnkultur«, »Trinkkultur«, »Sprachkultur«, »Schriftkultur«, »Fahrkultur«, »Schlafkultur«.

Die Kultur hat zwar ein ausgesprochen künstlerisches Element, sie muss aber nicht immer Kunst sein. Entsprechend müssen sich Kulturschaffende nicht gleich zu Kunstschaffenden aufschwingen.

Interessanterweise jedoch misslingt die Kulturproduktion, wenn eines ihrer landwirtschaftlich geprägten Merkmale fehlt.

Ohne Material: keine Unterlage für Kulturgut. Ohne Umwandlungsprozess: kein neues Kulturgut entsteht. Ohne Arbeit (und Planung, Mühe, Regelmäßigkeit, Fachwissen, Systematik, Sorgfalt, Pflege, Zielorientierung): kein produzierbares Kulturgut. Ohne Bezähmung von Wildheit: kein geformtes Kulturgut. Ohne Ertrag und Nutzen: kein Interesse an Kulturgütern. Ohne Rang und Macht: nur Zufall und Chaos. Ohne Künstlichkeit: Kulturgüter rein begrifflich ausgeschlossen.

Manchmal muss man eben altmodisch sein, um nicht mit leeren Händen dazustehen.

Die Missachtung dieser Gesetzmäßigkeit führt indes gerade in den hypermodernen Gesellschaften der heutigen Zeit zu einer seltsamen Lage: Die betroffene Gesellschaft giert förmlich nach exquisitem Selbstausdruck (vom »symbolischen Kapital« bekommt sie ja nie genug!), und doch bleibt ihr Selbstausdruck oft genug sehr weit hinter den eigenen Ansprüchen zurück, weil sie ihm nicht die passenden Kulturgüter zuführt.

Insbesondere die Arbeit am Kulturgut stellt sich gegenwärtig als Problem dar. Sie ist zu minimalistisch. Man vergleiche eine Kommode aus dem 18. Jahrhundert mit einem Sideboard von heute: Die Kommode ist ein kulturelles Schmuckstück, das Sideboard ein banaler Gebrauchsgegenstand. Und alles weil man in die Herstellung der Kommode reichlich Zeit und Mühe investiert hat, während man sich bei der Herstellung des Sideboards Zeit und Mühe sparen wollte.

Ein anderes Problem liegt darin, dass die hypermoderne Gesellschaft ausgerechnet dort, wo es ausreichend passable Kulturgüter gibt, zu oft von ihnen nicht repräsentiert werden möchte. Es werden beispielsweise mehr Gedichte als je zuvor geschrieben, doch die allermeisten veröffentlicht und beachtet man nicht; man ignoriert und vergisst sie lieber. Und wenn jemand ein Bild malt, wird nachdrücklich zu einer Videoinstallation geraten.

Mehr Hoffnung besteht für den Acker. Er erlebt eine Renaissance. Immer öfter wird er ohne Pestizide neu kultiviert und bringt exklusive Bioprodukte hervor. Die Kultur liebt ihre Ursprünge.

26. Januar 2024



Fotos: Bruno Martins, unsplash, 2024

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