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Kino und Poesie

Felix Raffael

Poesie und Kino dürften nicht verwandt sein: Weil Poesie aus Sprache besteht und Kino von Bildern lebt.

Der Stummfilm zeigt es. Er hat Kinosäle gefüllt, ohne dass ein Wort gesprochen wurde. Und heute kann das beste Drehbuch allemal nicht gegen schlechte Kameraführung ankommen.

Was sonst noch?

Die Poesie ist ein Gewebe aus Symbolen, und diese Symbole sind Zeichen und Worte, während in der Filmwelt die Symbole Verweise darstellen und nach sichtbaren Objekten aussehen.

Nicht zu vergessen, dass das Alter gelebte Zeit verkörpert und damit für große Unterschiede sorgt. Dem Film mit seinen 140 Jahren Geschichte stehen nun aber 5000 Jahre Literaturtradition gegenüber. So mutet die Gegenüberstellung der beiden Akteure fast wie ein Zusammentreffen von Mumie und Miley Cyrus an.

Das hat beträchtliche praktische Konsequenzen. Durch seine Jugendlichkeit kann das Kino seine Flexibilität bewahren, sich ständig erneuern und immer zeitgemäß wirken, die Poesie dagegen schüttelt nur schwer oder recht zögerlich die Hülle ihrer alten Formen ab und macht den Eindruck, aus der Zeit gefallen zu sein.

Noch etwas Weiteres. Die Poesie mit ihrer Verschlüsselungsmethodik findet trotzdem zu direktem Ausdruck, im Film aber ist alles Ausgedrückte geschauspielert. Das Gedicht gibt gewissermaßen die Sprachnachricht von jemandem wieder, der Kleidung aus dem Kostümverleih trägt; das Filmwerk wiederum fährt sozusagen Puppen auf, denen Bauchredner Worte in den Mund legen.

Ganz zu schweigen von der Finanzierung. Zur Verbreitung von Gedichten muss sich der Staat Förderprogramme ausdenken – durch die Lebensadern der Filmbranche fließen indes private Milliarden.

Kino und Poesie scheinen also grundverschieden zu sein.

Dennoch gibt es zwischen ihnen Verbundenheit, eine intime Verbindung sogar. Natürlich: Die Sprache der Gedichte ist bildlich, und die Bilder der Filme sind poetisch.

Der Grund hierfür liegt in der Beschwörung. Mit ihren Texten aus Lauten und Buchstaben beschwört die Lyrik in der Vorstellung der Lesenden und Hörenden, die nicht zuschauen, Bilder herauf, der Film seinerseits liefert dem Assoziationsvermögen der Zuschauenden einen lyrischen Subtext jenseits des Alltags. Selbst auf Actionfilme trifft das zu. Es ist nicht allein dem Autorenfilm vorbehalten, auch wenn dessen poetische Aussagekraft größer sein mag. Poesie ist eben mehr als Text, Film mehr als Bildsprache. Die zwei eint im Übrigen die Kompositionstechnik, die auf ästhetische Schlüssigkeit abzielt. In einem Gedicht müssen die evozierten Bilder zueinander passen, in einem Film dürfen die einzelnen Sequenzen nicht gegeneinander arbeiten.

Eine andere Gemeinsamkeit ist die, dass Gedichte dramaturgische Höhepunkte setzen und Filme in bestimmten Szenen kulminieren. Entsprechend gipfelt Mallarmés „Der Azur“ in den Versen „Der Himmel ist tot / Gib, o Materie, Vergessen des grausamen Ideals und der Sünde / diesem Märtyrer, der kommt, das Lager zu teilen, / wo das glückliche Menschenvieh sich gebettet findet“ und Tarkowskis „Nostalgia“ brilliert im Bild des Mannes, der eine brennende Kerze von einem zum anderen Ende eines leeren Schwimmbeckens trägt.

Überdies erinnern manche Gedichte an Filme und einige Filme an Gedichte. Bildlich engagiert und wie gefilmt erzählt Goethes „Erlkönig“ die Geschiche eines sterbenden Kindes, das sich von mysteriösen Gestalten bedroht fühlt; Bertoluccis „1900“ verliert sich geradezu elegisch in einer Abfolge von Landschaftsdarstellungen und Sittengemälden, bis der Handlungsstrang in den Hintergrund rückt.

Der kreative Mehrwert, um den es in Kino und Poesie letzten Endes geht, kann den allergegensätzlichsten Gattungen eine durchlässige Membran verleihen. Demnach bleibt doch festzuhalten, dass Filme und Gedichte ungleiche Geschwister aus ein und derselben Familie sind.

„Der Vorhang hatte sich gehoben, und ich wartete noch immer“, spricht der Dichter. „Film ab!“, antwortet der Saal.



Fotos: Header und Teaser: Stéphane Mallarmé "Sämtliche Dichtungen"

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