Magazine for Sexuality and Politics

Freiheit und Nichts

Savaş Ceviz und der Artikel 2 des deutschen Grundgesetzes

Susanne Schade

In einem Kooperationsprojekt (GG19) von 2007 haben verschiedene Regisseur*innen die ersten 19 Artikel des deutschen Grundgesetzes verfilmt (Imdb, 2023). Wenig überraschend widmet sich Savaş Ceviz Artikel 2 : der Freiheit. Für diejenigen außerhalb von Deutschland eine nicht ganz unwichtige Frage: Was steht eigentlich darin geschrieben?:

„(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ (BMfJ).

Das Narrativ des 6-minütigen Films von Savaş Ceviz ist schnell erzählt. In einem Polizeiauto fahren zwei ältere Polizisten zusammen mit Ceviz Freund, Max Riemelt, nachts Streife (Sense 8, Matrix 4), der ebenfalls einen Polizisten spielt und dösend auf der Rückbank sitzt. Die beiden älteren Kollegen wollen Max eines auswischen und halten an, als sie einen alten zerzausten obdachlosen Mann (Axel Neumann) sehen, der sein Hab und Gut in zwei Tüten neben sich gestellt hat. Max wird aufgefordert eine Personenkontrolle durchzuführen. Er sträubt und ekelt sich beim Anblick des Obdachlosen und beginnt ihn zögerlich zu untersuchen. Er knöpft seine Jacke auf, die Kamera zeigt auf den nassen Fleck im Schritt. Beim Griff in die Hosentasche stellt er wütend fest: „Verdammte Scheiße, nicht mal ´ne Unterhose an.“ Eine Passantin geht vorbei und sagt: „Warum lassen sie den Mann nicht einfach in Ruhe, der tut doch keinem was?“ Max untersucht schließlich seine Tüten und findet ein altes Lederportemonnaie. Er sagt: „Ist ja vollkommen leer“, worauf der Mann erwidert: „Ich brauche kein Geld – ich bin frei.“ Max packt all die Sachen wieder in die Tüten und knöpft die Jacke des Obdachlosen zu. Mit den zwei anderen Polizisten entfernt er sich stillschweigend. Die letzte Kameraeinstellung zeigt auf den alten Mann, der recht verloren allein im Dunkeln dasteht.

Eine Szene aus dem Film "Freiheit" : Max Riemelt und Axel Neumann<br>
Eine Szene aus dem Film "Freiheit" : Max Riemelt und Axel Neumann

Dieses Sujet (der Personenkontrolle) hat auch andere Regisseure intensiv beschäftigt, wie sich in dem erst kürzlich auf Netflix veröffentlichten und mit einem Oscar preisgekröntem Film „Two Distant Strangers“ von Davon Free und Martin Desmond Rom zeigt, in dem es eine endlose Wiederholung in immer neuen Varianten gibt, in der ein schwarzer Mann morgens, nachdem er die Wohnung seiner Freundin verlassen hat, auf einen weißen Polizisten stößt. Eine ähnlich Verarbeitung dieses Themas findet auch in dem Film von Stefon Bristol „See you yesterday“ statt, der von Spike Lee produziert wurde.

Zurück zum Film „Freiheit“, in dem Rassismus eher im Subtext mitläuft, weil eine Szene zwischen zwei weißen Männern geschildert wird. Judith Butler schreibt: „Bei Althussers Begriff der Anrufung geht der Zuruf oder die Ansprache, von der ein Subjekt konstituiert wird, von der Polizei aus. Es gibt einen Polizisten, der nicht bloß das Gesetz verkörpert, sondern dessen Zuruf ‚He, Sie da!‘ auf die Wirkung hat, das Gesetz mit dem zu verbinden, der angesprochen ist.“ (2021[1993]:173).

Das Subjekt wird in den Status des Subjekts erhoben, die Existenz begründet, wie hier und überall auf der Welt, besteht das in einem Pass. Die Passkontrolle hat in Berlin eine brisante Geschichte, denn gerade die Freizügigkeit in einer Stadt wie Berlin war lange Zeit durch zwei unterschiedliche Nationalitäten und damit zwei verschiedene Passkontrollen bestimmt. Während des Kalten Krieges konnten Menschen aus Ost und West jeweils mit einem Tagesschein in die andere Hälfte der Stadt.

Butler schreibt weiter: „Das Subjekt wird nicht nur anerkannt, sondern es erreicht auch eine bestimmte Ordnung der sozialen Existenz.“ Das geht mit Angst einher, der Angst die soziale Existenz und damit die Anerkennung zu verlieren. Im Film steht dem Obdachlosen die Scham und Angst ins Gesicht geschrieben. Es gibt kein Außerhalb, kein Außerhalb des Gesetzes. Die größte mögliche Freiheit ist dem Gesetz unterworfen.

Eine Szene aus dem Film "Freiheit" : Max Riemelt und Axel Neumann<br>
Eine Szene aus dem Film "Freiheit" : Max Riemelt und Axel Neumann

Wenn wir davon noch weiter abstrahieren und bei Hegel nachblättern, dann kommt eine neue Dimension hinzu. Hegel schreibt in seiner Enzyklopädie: „Die höchste Form des Nichts wäre die Freiheit, aber sie ist die Negativität, insofern sie sich zur höchsten Intensität in sich vertieft und selbst, und zwar absolute, Affirmation ist.“ (Hegel, 1970[1830]: 187).

Der Obdachlose hat sich von allem losgesagt, mehr oder wenig freiwillig, aber im Film erfahren wir dazu nichts. Es ist die Negation von Eigentum und Geld, es ist das Nichts. In diesem Nichts, kann der Mensch dort wirklich frei sein? In der Negation des Bestehenden, der Negation des Eigentums findet ebenso die Affirmation dessen statt, wenn man Hegel glaubt. Im Film von Savas Ceviz ist das Nichts nicht Nichts, es ist das Nichts und der Pass. Auch wenn der Polizist mit dem damals noch jungen Max Riemelt hübsch besetzt ist, bietet Ceviz hier eine Konfrontation an. Eine Konfrontation zwischen dem Rückzug von der Gesellschaft im Obdachlosen und ein Ins-Recht-Setzen als Staatsbürger.

Statt eine westliche Ästhetik zu propagandieren, wogegen sich immer auch Godard gewendet hat, verkehrt Ceviz das Schöne und das Hässliche. Das Hässliche – der Obdachlose Mann – scheint als der Hoffnungsträger für die/den Betrachter*in. Diese Form der Freiheit wird wünschenswert, aber muss dennoch negiert werden. Die Freiheit jenseits des Konsums, auch jenseits eines Konsums von Menschen, was ja in Berlin zur Marotte geworden ist, eine Freiheit jenseits von Eigentum und zwanghaftem Habenwollen wird vorstellbar. In dieser Hoffnung sieht Max Riemelt unmenschlich aus, weil er die Würde des Obdachlosen wütend angreift. Oder soll Max Riemelt den Obdachlosen, in diesem Fall das Selbstobjekt von Savas Ceviz, dann doch nur vor seiner Freiheit retten? ;-)

Bibliographie:

Bundesministerium der Justiz (2023). Grundgesetz. https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html (abgerufen 01.07.2023)

Butler, J. (2021). Körper von Gewicht. edition suhrkamp.

Hegel, (1970[1830]). Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Suhrkamp.

Imdb (2023). GG19.
https://www.imdb.com/title/tt0831854/plotsummary/?ref_=tt_ov_pl (abgerufen 10.06.2023).

Alle Fotos: Copyright Savaş Ceviz (GG19)

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