Magazine for Sexuality and Politics

Mehr Lebensqualität durch „Dritte Orte“!

Arne Germann

Intro

Am 6. und 7. Mai 2022 fand in Strasbourg die jüngste Tagung des Deutsch-Französischen Arbeitskreises (DFAK) der Wirtschaftspsychologinnen und -psychologen (nähere Infos zum DFAK siehe unten) zum Thema „Dritte Orte“ statt.

Neben dem Kennenlernen und der Auseinandersetzung mit dem Konzept stand auch die Besichtigung des „KaleidosCOOP“ (1), eines in Gründung befindlichen grenzüberschreitenden Dritten Ortes im alten Hafenviertel Strasbourgs, auf dem Programm.

Während in Frankreich das Konzept der „Dritten Orte“ politisch bereits in der Vor-Corona-Zeit als landesweit förderungswürdig definiert und vorangebracht wurde, haben hierzulande vermutlich eher wenige mit dem Konzept bzw. speziell mit dem Begriff Bekanntschaft gemacht.

Was also ist ein „Dritter Ort“? Was genau verbirgt sich hinter dem Konzept? Und welche Potenziale bietet es?

„Dritte Orte“: Definition & Zwecke

Der Begriff „Dritter Ort“, engl. „third place“ oder seltener auch „great good place“, umschreibt in der Soziologie Orte der Gemeinschaft, die einen Ausgleich zu Familie und Beruf bieten sollen (2).

Das Modell geht zurück auf den US-amerikanischen Soziologen Ray Oldenburg, der bereits 1989 in seinem Werk „The Great Good Place“ sein Konzept des „Dritten Ortes“ vorstellte. Seiner Auffassung nach dient der „Erste Ort“ dem Familien-, der „Zweite Ort“ dem Arbeitsleben. Der „Dritte Ort“ bietet zu beidem einen Ausgleich und ist ein Treffpunkt für die nachbarschaftliche Gemeinschaft.

Ein wesentlicher Grundgedanke des Konzepts ist es also, dass es für Menschen neben einem persönlichen, privaten, geschützten und intimen Raum für sich und nahe Menschen jeder Art (= „Erster Ort“) und dem klassischen Arbeitsplatz (=„Zweiter Ort“) weitere „Dritte Orte“ geben sollte.

Oldenburg zufolge soll ein „Dritter Ort“ acht Charakteristika aufweisen (2):

  1. Er befindet sich auf neutralem Boden, d. h. jeder außer den dort arbeitenden Menschen kann kommen und gehen, wie es ihm beliebt.
  2. Er steht grundsätzlich allen Bevölkerungsschichten offen und soziale Unterschiede werden abgeschwächt.
  3. Konversation ist erwünscht.
  4. „Dritte Orte“ sind einfach zu erreichen.
  5. Sie verfügen über Stammgäste.
  6. Die Optik des „Dritten Orts“ steht nicht über seiner Funktion.
  7. Es herrscht eine spielerische („playful“) Stimmung, allzu ernste Themen werden vor der Tür gelassen.
  8. Der „Dritte Ort“ dient als zweite Heimat bzw. Zweitfamilie.

Idealerweise dienen „Dritte Orte“ somit dem Ausgleich zu Privat- und Arbeitsleben sowie der kreativen, sozialen und kulturellen Begegnung von und für Jedermann. Das bedeutet, sie sind diskrimierungsfrei zugänglich und einladend für jeden. So sollen sie Teilhabe, Integration und Innovation ermöglichen sowie Desintegration, Vereinzelung und Isolation in der örtlichen Gemeinschaft entgegenwirken.

Umsetzungsbeispiele für „Dritte Orte“ in Frankreich und anderswo

Traditionelle Beispiele typischer „Dritter Orte“ sind u. a. Kaffeehäuser in Wien, englische Pubs, Biergärten oder auch Bibliotheken (2). Allerdings kann der Konsumzwang in einer gastronomischen Einrichtung sozial ausgrenzende Effekte mit sich bringen, was dem Grundgedanken „Dritter Orte“ widerspricht. Eine sehr weite Definition schließt zudem alle Arten öffentlicher Lebensbereiche, wie z. B. auch Parks oder Spazierwege, nicht aus (3).

In Frankreich entstehen „Dritte Orte“ heute eher in Form von z. B. Bürgerzentren bzw. Gemeinde- oder Stadtteilzentren. Sie integrieren dabei häufig auch Arbeitsmöglichkeiten als shared workspaces, Kultur- und Veranstaltungsräumlichkeiten, die für jeden buchbar sind, Bildungsangebote und Ausstellungsräume für lokale und regionale Initiativen sowie generell großzügige, einladende und frei zugängliche öffentliche Bereiche für Austausch und Begegnungen (4).

In der Umsetzung in Frankreich sowie auch im wachsenden Diskurs in Deutschland wird zudem speziell an eine Förderung und Entwicklung ländlicher Regionen gedacht, denen durch die räumliche und funktionale Zerdehnung häufig gemeinschaftliche Strukturen jenseits von Privaträumen und Arbeitsräumen fehlen bzw. über die Zeit und durch gesellschaftliche Entwicklungen abhandengekommen sind. Gleichermaßen können „Dritte Orte“ aber natürlich auch in urbaneren Räumen fehlen und von Nutzen sein. (3)

Von der „Work-Life-Balance“ zur „Private-Social-Professional Balance“ durch „Dritte Orte“

Da es nach Oldenburg im Konzept „Dritter Orte“ wesentlich um eine Balance zwischen zentralen menschlichen Bedürfnissen geht, die jeweils an unterschiedlichen Orten ausgelebt werden, kann es als Ausgangspunkt hilfreich sein, an das verbreitete Konzept der „Work-Life-Balance“ anzuknüpfen.

Während „Work-Life-Balance“ jedoch als zweidimensionale Konzeption „(Erwerbs-) Arbeit“ und „Leben“ als Pole einander gegenüberstellt, so als ob „Arbeit“ und „Leben“ „Gegenspieler“ seien, fügt das Konzept der „Dritten Orte“ eine soziale und kulturelle Komponente als dritte Dimension hinzu und löst bzw. lockert zugleich die fragwürdige Polarität des Konzepts „Work-Life-Balance“ auf.

Für diese sozialen Bedürfnisse werden nun, damit sie ihr positives und schöpferisches Potenzial entfalten können, wie für das Privatleben als „Erstem Ort“ und das Arbeitsleben als „Zweitem Ort“ ebenfalls verbindliche und feste Orte benötigt – die „Dritten Orte“.

Soziale und kulturelle Bedürfnisse sind dabei keineswegs nur Mittel zum Zweck der Förderung von Bedürfnissen in den beiden weiteren Lebensbereichen. Und es braucht zu ihrer Entfaltung eigene, eben „Dritte Orte“, an denen sich Menschen als immer auch soziale Wesen als Teil eines größeren Gemeinwesens erleben können, an dem Gemeinschaft integrativ und kreativ gestaltet und entwickelt wird und der somit immer auch elementarer Teil des Seins und Erlebens ist.

Gleichwohl können „Dritte Orte“ sehr wohl positiv für die beiden weiteren Lebensbereiche „Privatleben“ und „Arbeitsleben“ wirken:

  • Auf das Arbeitsleben, indem kreative, innovative Impulse mittels der Förderung durch ein ungezwungenes, offenes, spielerisches Umfeld am „Dritten Ort“ ausgetauscht, aufgenommen und weiterentwickelt werden können und daraus ggf. auch Gründungen und gemeinsame Projekte neu entstehen können.

  • Und auf das Privatleben, indem lebendige Inspiration und Begegnung am „Dritten Ort“ das vorwiegend private Beziehungs- und auch Liebesleben am „Ersten Ort“ bereichern kann, der gerade in den heutzutage verbreiteten Lebensmodellen in der Kleinfamilie oder des allein Lebenden arg strapaziert sein kann.

Nicht zuletzt die Coronazeit hat vielen nicht nur die Möglichkeiten, sondern oft auch die Limitierungen, des „Ersten Ortes“ verdeutlicht, da zum einen Austauschaktivitäten im nicht-virtuellen Raum weitgehend unterbunden waren und zum anderen die Tätigkeiten am klassischen „Zweiten Ort“ auch noch an den „Ersten Ort“ gewandert sind. Jeder aber, der in seinen privaten Räumen schon einmal neben intimen Privatheits-Bedürfnissen über längere Zeit auch noch professionelle Bedürfnisse „befriedigen“ musste, weiß, dass dies besondere Anforderungen, Belastungen und Stress bedeuten kann.

Schließlich erscheint die völlige Funktionalisierung des „Ersten Raumes“, den man dank Internet, Lieferdiensten und befreundeten Besuchern möglichst gar nicht mehr verlassen muss, eher als eine Dystopie denn als erstrebenswerter Endzustand. Dem Trend zum „Cocooning“ setzt das Konzept der „Dritten Orte“ somit eine konkrete und potenziell bereichernde Alternative entgegen.


Resümee

Auch wenn der Grundgedanke des Konzepts „Dritter Orte“, dass Menschen soziale Wesen sind, die Ausgleich zum Privat- und Arbeitsleben, sozialen Austausch und dafür geeignete Orte brauchen, sicherlich nicht revolutionär neu ist sowie auch durchaus in Teilen kritisch diskutiert werden kann, verdient m. E. das Konzept gerade in heutigen Zeiten Wertschätzung und Förderung. Eine fortschreitende Kommerzialisierung öffentlicher Räume, eine Tendenz zum Rückzug ins Private bzw. in bestimmte homogene „Blasen“ und eine Erosion integrierender gemeinschaftlicher Strukturen haben über die Jahre zu wachsender Desintegration von Teilen der Gesellschaft, Vereinsamung und Verlust von Teilhabe und Zugehörigkeit geführt, die für die individuelle Lebensqualität ebenso wie für die demokratische Basis von Gesellschaften und auch für die Innovativität und Erneuerungsfähigkeit von Gemeinwesen eine Bedrohung sein kann.

„Dritte Orte“ können zur Überwindung solcher negativer Effekte einen wichtigen Beitrag leisten. Zugleich ist das Thema dynamisch, denn anders als „Erste Orte“ und „Zweite Orte“ müssen „Dritte Orte“ lokal vielfach erst (wieder) erschaffen und mit Leben gefüllt werden. Das erfordert Initiative, Vertrauen und auch öffentliche finanzielle Mittel, wenn gerade nicht allein kommerzielle Zwecke in den Vordergrund rücken sollen.

Schließlich kann es eine Anregung sein, dem geschilderten Verständnis und Menschenbild folgend künftig eher von einer „Private-Social-Professional-Balance“ anstelle der eingeschliffenen Formulierung „Work-Life-Balance“ zu sprechen. Gerade für die (Wieder-) Belebung des gesellschaftlichen Lebens in der Post-Corona-Zeit können in diesem Sinn und Verständnis möglicherweise hilfreiche Impulse in entsprechende Debatten eingebracht werden.

Quellen

jeweils zuletzt abgerufen am Montag, den 27.06.2022

Informationen zum DFAK:

Der Deutsch-Französische Arbeitskreis (DFAK) widmet sich dem interkulturellen Austausch zu verschiedensten Themen der Wirtschaftspsychologie. Hierzu werden mindestens zweimal pro Jahr themenbezogene Treffen in Frankreich und Deutschland durchgeführt. Nähere Informationen zum DFAK finden Sie auf unserer Website.

Wir laden Sie darüber hinaus herzlich ein, sich in unserer LinkedIn-Gruppe mit anderen Mitgliedern und Interessierten zu vernetzen und über unsere Aktivitäten auf dem Laufenden zu bleiben.


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