Magazine for Sexuality and Politics

Die Kinder der Generation Wechselmodell

Beobachtungen aus Kreuzberg

Andrea Wurst

In Berlin gibt es deutlich mehr Kinder in sogenannten Einelternfamilien als in allen anderen Bundesländern in Deutschland. Nach der Trennung der Eltern leben viele dieser Kinder dann mit dem Koffer in der Hand, sie pendeln zwischen den beiden Welten ihrer Eltern. Was bedeutet das langfristig für ihre Psyche? Und ist es möglich, sich von einem defizitorientierten Blick auf Kinder mit getrennten Eltern zu lösen?

Mein Kind ist vier, als es auf dem Spielplatz ein anderes Kind fragt, wo dessen Zuhause ist. „Da“ zeigt das andere Kind. Ah ja, nickt mein Kind verständig, „und wo ist das andere?“

Vielleicht ist die Selbstverständlichkeit, mit der mein Kind vor einigen Jahren davon ausging, dass Kinder in zwei Haushalten leben, nur bei uns in Berlin-Kreuzberg nichts Außergewöhnliches. Vier der sechs Kitafreunde meines Sohnes hatten schließlich getrennte Eltern, und auch in unserem Freundeskreis sah es nicht viel anders aus. Sicherlich ist das ein wenig anders, wenn man sich die Zahlen für ganz Deutschland ansieht, da sind es dann doch nur 20 Prozent der insgesamt etwa 8 Millionen Kinder, die bei alleinerziehenden Eltern leben. Berlin ist eben bundesweiter Spitzenreiter unter den Alleinerziehenden. Hier lebt fast jedes 3. Kind in sogenannten Einelternfamilien.

Teils leben sie nur bei einem Elternteil, aber häufig wechseln sie nach ausgetüftelten und auf die Lebensrealität der Eltern abgestimmten Zeitplänen. Und auch wenn Begriffe wie Wechselmodell, Residenzmodell oder 5-2-Modell hier in Kreuzberg vielleicht unter den Eltern häufiger verhandelt werden als in anderen Bundesländern, auch hier wünschen sich die meisten der getrennt lebenden Eltern für ihre Kinder eigentlich ein stabiles Zuhause. Sie fragen sich, nicht ohne Sorge, was es mit ihrem Kind macht, ständig den Koffer in der Hand zu haben. Das Vermissen des Kindes, wenn es beim anderen Elternteil ist, ist ein ständiger Begleiter für sie, ebenso wie das Gefühl von Überforderung, wenn sie dann in ihrer Zeit das Kind alleine betreuen.

Aber wie so häufig entwickelt sich hier in Kreuzberg und Neukölln auch etwas Neues. Ganz im Sinne einer Emanzipation und Abgrenzung von diesem bislang so pathologisierenden und defizitorientierten Blick auf Alleinerziehende scheint eine Art von neuem Selbstverständnis der getrennt lebenden Eltern zu entstehen. Ein Blick darauf darauf lohnt sich.

Sicherlich lässt sich die innere Dynamik von Familien bzw. von Kindern in Wechselmodellen nicht generalisieren. Jede Familie und jedes System hat eine ganz eigene Art von Melodie oder Stimmung, vor der die familiären Szenen und damit auch die Wechsel spielen. Und für selbstbewusste und stabile Kinder bleibt weiterhin primär die Qualität der Beziehungen zentral, in denen das Kind in seinem Alltag verwoben ist. Es sind Werte wie Zuneigung, Verlässlichkeit, Freundlichkeit, Möglichkeit zur Entwicklung und inneren Freiheit, die da wichtig sind.

Was aber spannend ist, ist die Frage, wie die strukturellen Bedingungen, die das Leben in Einelternfamilien mit sich bringt, sich auf die Psyche auswirken und damit auf die Entwicklung dieser jungen Generation. Wie erleben diese Kinder ihre gesplittete Familie? Wie ein Gefühl von Beheimatung und Zugehörigkeit? Wie gehen sie Beziehungen ein und wie meistern sie zentrale seelische Aufgaben, wie das Eingehen von Nähe und die Fähigkeit zur Ablösung?

Eine Familie aus zwei[1] Eltern und einem oder mehreren Kindern bildet, wenn es gut läuft, den Raum für die Beziehungen, die die einzelnen miteinander haben, aber auch darüber hinaus einen Familienraum, in dem sich alle bewegen. Psychodynamisch gesprochen ist dieser gemeinsame Raum auch der Part, der die Triangulierung ermöglicht, eine relevante Größe für eine gesunde Entwicklung eines Kindes. Denn das Kind sucht die Nähe zu seinen Eltern, es sucht die Möglichkeit, sich in diese Nähe, in die Symbiose und in das völlige Aufgehen in Mutter oder Vater fallen zu lassen. Es will sich für Momente ganz identifizieren und die Welt durch seine oder ihre Augen erleben. Das ist ein Prozess der Prägung, der für das Kind enorm wichtig ist, um sich geborgen und geliebt zu fühlen, für den es aber ebenso wichtig ist, dass es Auswege gibt und Grenzen dieser symbiotischen Sehnsucht. Es muss immer auch die Möglichkeit geben, sich von den Eltern und deren Bedürfnissen und Erwartungen abzugrenzen, um sich nicht vereinnahmt und emotional überwältigt zu fühlen, schließlich dann auch, um ein:e eigenständige:r Erwachsene:r zu werden.

In stabilen Familien ist es meist das zweite Elternteil, das diese Position des „schützenden Dritten“ übernimmt[2]. Er oder sie behütet in gewisser Weise die Beziehung des Kindes zum anderen Elternteil, denn wenn es ein Außen gibt, dann ist die Gefahr geringer, miteinander zu verschmelzen, und die Kinder werden herausgefordert, sich abzulösen und sich weiter zu entwickeln. Auch Konflikte mit dem nahen Menschen werden möglich, denn es gibt einen oder eine Dritte, zu der oder dem man gehen kann.

Psychodynamisch gedacht gilt dies für verschiedene Entwicklungsphasen, sowohl für unsere Autonomieentwicklung, als auch für die Entwicklung unseres Begehrens. Auch später, als Erwachsene*r, kann es ein Ausweg, eine Erleichterung sein, die dritte Position einzunehmen. Es ist ein Spiel im Dreieck – ein Oszillieren zwischen dem völligen Einlassen, der Abgrenzung aus sich heraus und dem Aushalten von Aufgeschlossenheit. All diese Erfahrungen sind im Dreieck erträglich und integrierbar, sie dienen der gesunden Ablösung und Progression, aber auch dem Erleben von Geborgenheit darin und der Möglichkeit, sich momentweise ganz in die Regression fallen zu lassen.

Was aber, wenn das Familiensystem nun zerbricht? Das Kind wechselt dann zwischen zwei Welten, mal verschmolzen mit der Wirklichkeit in einem Elternhaus, mal geprägt von den Stimmungen und dem emotionalen Erleben im anderen.

Aus einer pathologisch-pessimistischen Perspektive wäre es möglich zu sagen, dass hier egomanische Kinder heranwachsen, die von einer symbiotischen Situation in die andere fallen. Symbiotisch verwöhnt, lernen sie nicht, Teil von etwas zu sein oder Ausschlusssituationen und Begrenzung zu ertragen. Aber auch zu langfristiger Nähe sind sie nicht in der Lage sind, weil ihr einziges Moment, die Symbiose zu regulieren, der Bruch ist.

Auch ist die Rigidität dieses Bruchs sicherlich nur schwer vorstellbar für die meisten von uns, die nicht so aufgewachsen sind. Der abrupte Wechsel zwischen zwei Welten, zwei Orten, zwei Gerüchen, zwischen zwei Formen von Liebe. Kann ein solcher Bruch eigentlich seelisch bewältigt werden ohne eine seelische Spaltung, ein seelisches Abbild der äußeren Wirklichkeit? Viele der Kinder zeigen diese inneren Brüche, sie trennen z.B. ihre Wohnorte sehr sorgfältig, viele wollen auch keine Telefonate mit dem abwesenden Elternteil. Manche Kinder werden extrem loyal, genau darauf bedacht, sich beiden Eltern gegenüber gerecht „aufzuteilen“, sie verlieren den Zugang zu unmittelbaren Bedürfnissen, andere ziehen sich in schützende und verlässliche Phantasiewelten zurück.

 Photo by Nathan Dumlao, Unsplash <br>
 Photo by Nathan Dumlao, Unsplash

Ich beobachte die Kinder getrennter Eltern in unserem Kiez nun schon eine Weile, und ich teile diesen sorgenvollen Blick zum Teil bzw. möchte nicht in Frage stellen, dass eine derartige Integrationsleistung zweier Welten Spuren hinterlässt, die schmerzlich und seelisch kantig sind und durch teils rigide Bewältigungsstrategien reguliert werden müssen.

Aber ich beobachte mit Interesse auch ganz andere Dynamiken. Ich kann nicht sagen, ob das überall so ist, aber es scheint für seelisch gut versorgte Kinder und ausreichend psychisch stabile Eltern auch kreative Lösungen zu geben, sich eine solche dritte Position, ein stabilisierendes Außen, zu organisieren.

Die Einelternfamilien fangen an, ihren emotionalen Radius über die Kleinfamilie hinaus zu erweitern. Deutlich mehr als die meisten Kleinfamilien es tun, beziehen sie sich auf ihr soziales Umfeld. Patchworkfamilien entstehen, die sich wie Netze über verschiedene Familien ausspannen. Freundschaften werden enger und als Familie erlebt. Der Bezug auf andere Menschen scheint direkter, ist Teil der Urlaubs- und Wochenendplanung sowie des Familienselbstverständnisses. Die alleinerziehenden Eltern machen aus der Not eine Tugend, sie trauen ihren Kindern früh ein hohes Maß an Autonomie zu, sie vernetzen sich mit anderen Eltern. Auch sie müssen um ihre Grenzen kämpfen. Das ist und bleibt ein wichtiger Punkt, nicht zuletzt zum Schutz des Kindes. Aber es ist möglich, diese Selbstgrenzen zu wahren – durch Auszeiten, durch Bezogenheit auf andere Menschen, aber auch auf Hobbies, Ideen oder Leidenschaften. Auch letztere können die Position des Dritten herstellen. Letztendlich geht es immer darum, dass in die Zweisamkeit mit dem Kind etwas Drittes einzieht, etwas, das außerhalb des Sogs der Verschmelzung noch ausreichend emotionale Relevanz hat und dadurch Grenze und Sicherheit bietet in der sonst ununterbrochenen Symbiose.

Ein solcher Prozess ist sicher herausfordernd, aber die strukturelle Nähe, wie sie im Wechselmodell gelebt wird, muss nicht zu tiefgreifenden Störungen führen. Wenn die Basis gegeben ist, wenn die grundlegende Beziehung zwischen Vater oder Mutter und dem Kind stimmt, dann scheint die Psyche an dieser Stelle kreativ werden zu können und sowohl für progressive als auch für regressive Bedürfnisse zu sorgen. Dann kann die äußere Welt einbezogen und in die Position des Dritten gebracht werden. Und dabei können erstaunlich autonome und dennoch sozial-bezogene Kinder herauskommen. Es sind Kinder, die genau wissen, wie wichtig ihre Freund*innen sind. Ich jedenfalls bin gespannt auf die Erwachsenen der Generation Wechselmodell.


[1]Oder auch aus mehreren Eltern – um hier auch Co-Elternschaftsmodelle einzubeziehen. Diese haben jedoch wieder besondere Herausforderungen zu bewältigen, auf die hier aus Kapazitätsgründen nicht weiter eingegangen werden kann.

[2] Geschwister eignen sich in gewissem Maße auch für diese Aufgabe, allerdings geht es ja hier um das Aushandeln und Begrenzen von Abhängigkeitswünschen, eine Funktion also, die Geschwister weniger übernehmen können und sollten, als die Eltern.

Andrea Wurst, 2021<br>
Andrea Wurst, 2021

Psychologin, Coach & Journalistin

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