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Die Gespenster der Vorurteile

Nadir Lara Junior

Die Volksgeschichten und die Literatur selbst, insbesondere das Buch von Gaston Leroux („Das Phantom der Oper“), zeigen uns, dass die Sichtung eines Geistes sich normalerweise in einem bestimmten Spukhaus, in einer bestimmten Gasse oder, wie im „Phantom der Oper“, in der Pariser Oper ereignet. In diesen gespenstischen Geschichten konzentrieren die Erzähler sich üblicherweise auf einige interessante Details: die Vorgeschichte des Gespenstes, seine Sorgen, Freuden, Geliebten, seine Familie und dergleichen ... Und aus irgendeinem Grund verbleibt das Gespenst an diesem Ort, spukt und/oder sucht Rache.

Es ist allgemein bekannt, dass solche Geschichten die Phantasie der Menschen beflügeln. Wenn man jedoch an einem so genannten Spukhaus oder -ort vorbeikommt, verspürt man oft schon beim geringsten Geräusch Angst oder bekommt eine Gänsehaut. Das liegt daran, dass der menschliche Verstand schnell damit rechnet, dass dort ein Geist lebt. Im Falle aber, dass jemand behauptet, an einem bestimmten Ort sei ein Gespenst gesichtet worden, werden sicherlich misstrauische Blicke zugeworfen werden, denn jeder "weiß" doch, dass Gespenster nicht existieren.

Wenn wiederum Sigmund Freud seine Bücher über Psychoanalyse schreibt, teilt er uns mit, dass der menschliche Verstand bestimmte Arten von Vorstellungen erzeugt, die er „Phantasien“ nennt. Diese resultieren aus den Lebenserfahrungen des einzelnen Menschen. Einige dieser Phantasien verwandeln sich in Kreativität und schaffen so eine Vielzahl künstlerischer und kultureller Ausdrucksformen, die den Menschen helfen können, glücklicher zu werden.

Dennoch lenkt Freud ebenfalls unsere Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass es einige Arten von Phantasien gibt, die zu wahren Gespenstern werden (etwa: Sexismus, Rassismus, soziale Vorurteile usw.) und dass sie sich in der menschlichen Psyche festzusetzen beginnen. Die Psychoanalyse erinnert uns allerdings zusätzlich daran, dass diese Gespenster seitens der Subjekte verdrängt werden müssen, d. h. sie dürfen in einer bestimmten Kultur nicht zum Ausdruck kommen, da sie die Moral dieser sozialen Gruppe verletzen könnten.

Nichtsdestoweniger teilt Freud uns aber auch mit, dass die verdrängten Gespenster aus der Psyche zurückkehren können, um eine Gemeinschaft heimzusuchen, und dass sie für ihre "Reinkarnation" die Mitarbeit der Menschen benötigen, die ihren Körper darbieten, damit das Vorurteil sich ausbreiten kann. Auf diese Weise kommt bei Rückkehr des Verdrängten der vom Über-Ich verdrängte Geist gerade dann zurück, wenn es zu einer Lockerung der Normen und der kulturellen Gesetze kommt, wodurch es den Menschen nunmehr erlaubt ist, ihre sexistischen, rassistischen, vorurteilsbehafteten usw. Strebungen umzusetzen. In solch gespenstischen Ritualen erscheint das Gespenst des Vorurteils als ein verdammtes Gespenst, das eigentlich tot sein sollte, aber stattdessen damit beginnt, einige zu verführen und andere heimzusuchen.

So verwandelt das Gespenst des Sexismus, des Rassismus, der sozialen Vorurteile usw. die Realität in ein Spukhaus, das heißt, letztere wird zum Ort, an dem alle möglichen schlummernden Gespenster einer bestimmten Kultur dazu übergehen, Angst und Schrecken zu verbreiten und für Kummer im Leben der Menschen zu sorgen. Auf diese Weise verwandeln die vorurteilsbehafteten Individuen das menschliche Leben sehr oft in ein Horrorszenario, sie verletzen andere mit Worten, mit Umgangsformen oder durch Ausgrenzung, und in vielen Fällen wenden sie physische Gewalt an, um ihre Verachtung für Schwule, Lesben, Schwarze, Juden, Arme, Einwanderer zum Ausdruck zu bringen, … als ob diese Menschen eine schwere Krankheit in sich trügen.

In diesem Sinne höre ich in meiner Arbeit als Psychoanalytiker von meinen Patienten immer wieder, dass viele ihrer Verwandten und Freunde damit beginnen, sie mit Verachtung zu behandeln, wenn sie sich als Schwule, Lesben, Transsexuelle usw. outen. Sie fangen an, sie zu verfolgen, als ob sie etwas Falsches oder Verbotenes tun würden. Die Art und Weise, wie sie in ihren Familien und in der Gesellschaft behandelt werden, ist die Ursache für viel Leid. Diese Patienten ihrerseits engagieren sich für den Aufbau kollektiver Räume, in denen sie über ihre Lebensgeschichte sprechen und versuchen können, ihren Schmerz zu überwinden und somit in der Lage zu sein, für ihre Rechte zu kämpfen. So wird das psychoanalytische Behandlungszimmer zu einem wichtigen Raum, in dem diese vielfältigen Formen des Leidens gehört und behandelt werden können.

Wir setzen auch auf die Idee, es sei notwendig, dass jedes Land eine öffentliche Politik entwickelt, die diese besondere Art von Leid anerkennt, das Schwulen, Lesben, Schwarzen, Armen, Immigranten usw. zugefügt wird, und welche ihnen helfen soll, ihre Nöte zu überwinden. Auch sollte eine solche Politik für diese Menschen öffentliche Räume schaffen, wo sie sich aussprechen können und willkommen geheißen werden. Diese öffentliche Politik mag auch dem Zwecke dienen, Gesetze und Normen zu schaffen, welche die Rückkehr der verdrängten Gespenster regeln, die in vielen kapitalistischen Gesellschaften mit Beharrlichkeit immer wieder auftauchen.

Man kann diese Art von Gespenstern nicht so behandeln, als ob sie der Kultur eines Landes innewohnen würden. Deshalb ist es notwendig, dass alle Menschen, ob Opfer von Vorurteilen oder nicht, soziale Bewegungen, politische Parteien, Gewerkschaften und andere Arten von Gruppen unterstützen oder formieren, die gegen Vorurteile kämpfen und es verhindern, dass Vorurteile einfach als Teil der Realität hingenommen werden. Es gibt ja schließlich gar keine Gespenster ... Im Hinblick darauf sollten diese besagten Organisationen oder Gruppen die Schaffung von Möglichkeiten fördern, damit letztendlich alle Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit respektiert werden. Vor allem diejenigen Menschen, die am meisten unter der gesellschaftlichen Ablehnung leiden, die das Gespenst der Vorurteile mit sich bringt.


Weitere Literatur:

Derrida, J. (1994). Specters of Marx. Routledge.

Žižek, S. (1997). The Plague of Fantasy. Verso.

Nadir Lara Junior – Doktor in Psychologie und Psychoanalytiker in Brasilien
Nadir Lara Junior – Doktor in Psychologie und Psychoanalytiker in Brasilien

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