Magazine for Sexuality and Politics

Die bürgerliche Kleinfamilie

Isabelle Herbst

Die bürgerliche Kleinfamilie gilt als spießig. Sie wird nicht als Hort innovativer Sozialbeziehungen gesehen. Eher werden diese in Haus- und Wohnprojekten, in offenen, gleich- oder mehrgeschlechtlichen Beziehungen verortet. Die bürgerliche Kleinfamilie gilt eher als langweiliger Mainstream.

Aber diese Vorurteile verdecken die eigentliche Frage: Wie wollen wir leben? Oder wie wollen wir Beziehungen leben? Beziehungen zu konkreten Menschen? Oder auch zu Dingen, zu Lebewesen, zu einem Ort oder einer Landschaft? Denn verdeutlicht die bürgerliche Kleinfamilie nicht auch, dass eine Beziehung immer ein Beziehungsgeflecht ist? Und das an diesem Beziehungsgeflecht nicht nur Menschen beteiligt sind? Sondern vor allem auch Dinge und Orte – Dinge, die man besitzen oder Orte, die man bewohnen kann?

So ist das kleinbürgerliche Wohnzimmer in unserer Zeit auch ein Klischee. Nicht wegzudenken ist hier die Couchgarnitur, der riesige Flachbildschirm, der Couchtisch, der Sessel, die Schrankwand. Es ist interessant, welche Elemente man davon weglassen kann, ohne dass das Klischee, das so oft auch konkret gelebt wird, zu funktionieren aufhört. Aber sobald man bei einer kleinbürgerlichen Kleinfamilie zu Besuch ist, werden die Besucher*innen von der Allgegenwart dieses Klischees überrascht.

Wie also wollen wir leben? Ist es nicht, auch wenn es sich nur um eine zweipolige Beziehung handelt, das Grundproblem jeden Miteinanders, wie das Für-sich-Sein im Gemeinsam-Sein möglich ist? Selbstbestimmung des Einzelnen bei gleichzeitiger Rücksichtnahme und Hilfe im Zusammenhang mit den Bedürfnissen anderer?

Dieses Problem besteht in hippen offenen Beziehungen oder Hausprojekten ebenso wie in der bürgerlichen Kleinfamilie. Es ist demnach möglich, die bürgerliche Kleinfamilie auf Grundlage dieser Werte zu modernisieren. Die Kleinfamilie muss nicht unbedingt offene Beziehungsformen praktizieren, sie muss nicht patchworken, sie braucht nicht als Sinn einer bürgerlichen Existenz zu fungieren. Ein neues Bild könnte das eines Basislagers sein, von dem aus die Beteiligten zu neuen Expeditionen starten: sei es ins Arbeitsleben, sei es zu Freunden, sei es zu Engagement und Aktivismus in sozialen Bewegungen – also hin zu verschiedenen Tätigkeiten eines Bürgers.

Wie könnte eine solche Kleinfamilie aussehen? Einige erste Keime der neuen Kleinfamilie können wir bereits beobachten, wenn wir Kleinfamilien besuchen gehen.

Wir haben in der Kleinfamilie ein Beziehungsgeflecht, es gibt Zeiten, in denen alle zusammen sind, beispielsweise bei gemeinsamen Mahlzeiten, Feiern, Ausflügen etc. Es wäre aber sehr ungemütlich, wollte man alle Aktivitäten gemeinsam bestreiten. Demnach gibt es Zeiten des Alle-gemeinsam-Seins (Familienzeiten), Zeiten, in denen ein Teil der Kleinfamilie Gemeinsam-Sein praktiziert (Betreuungszeiten), sowie Zeiten, in denen jeder für sich ist (Arbeitszeiten und Eigenzeiten in der Freizeit).

Generell besteht vor allem bei Kindern bis zum Grundschulalter das Problem der Freiheit des Einzelnen in der Kleinfamilie in der Freiheit der beteiligten Erwachsenen. Diese wechseln sich oft, so lässt es sich bei modernen Kleinfamilien ja beobachten, in der Kinderbetreuung ab. Manche treiben es soweit, Wochenpläne zu schreiben, in denen die jeweiligen Aufgaben gleich verteilt sind: zur Kita/Schule bringen, von dort wieder abholen, ins Bett bringen. Damit haben die Erwachsenen jeweils die Möglichkeit, entweder früher auf Arbeit zu gehen, später von dort zurückzukommen oder sich am Nachmittag mit Freunden oder Bekannten zu verabreden, Kultur zu genießen, spazieren zu gehen, allein zu sein. Der andere Erwachsene kann hingegen seine Beziehungen zu den Kindern pflegen, etwas mit ihnen unternehmen, ins Museum gehen, einkaufen gehen, basteln, Sport treiben usw. Ähnlich lässt sich das Wochenende in Bezug auf getrennte und gemeinsame Zeiten gestalten.

Weiterhin ist die Familie immer noch häufig eine Wirtschaftseinheit und wird auch so behandelt. Selbst unverheiratete Paare, sollten sie gemeinsam in einem Haushalt mit eigenen Kindern leben, sind von Staatswegen dazu verpflichtet, sich gegenseitig zu unterstützen. Nebenbei gesagt: Das macht es noch sinnfreier zu heiraten. Die neue Ehe ist eigentlich das Sorgerecht für ein gemeinsames Kind. Die Freiheit des einen Erwachsenen im Verhältnis zum anderen liegt aber in den getrennten Finanzen. Nur so ist es gewährleistet, dass nicht der eine Erwachsene die Rolle des Ernährers bzw. der Ernährerin übernimmt und der andere Erwachsene sich mehr um die Kinder kümmert oder den Haushalt versorgt. Vielmehr werden die Haushaltstätigkeiten, wie etwa Putzen, Wäsche waschen, Einkaufen, gleich verteilt. Das gelingt besser, wenn die entsprechenden Dinge im Haushalt voneinander getrennt werden: Die Eltern besitzen dann (wie in einer WG) ihr eigenes Kühlschrankfach und gehen jeweils für sich einkaufen (und zu dem „für sich“ gehören auch die Kinder); die schmutzige Kleidung wird getrennt gesammelt; jeder Erwachsene tut das für sich und für die Kinder. Die Kindersachen werden mitgewaschen, wenn ein Erwachsener seine Wäsche wäscht.

Demnach liegt gerade in der Trennung die Freiheit der Familienmitglieder, die es ermöglicht, dann doch zu gemeinsamen Tätigkeiten zusammenzukommen. Jedes Familienmitglied hat seinen eigenen Raum. Die Vorstellung, dass es ein Kinderzimmer, ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und eine Küche gibt, kann aufgegeben werden, damit nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen Rückzugsräume haben, in denen sie für sich sein können.

Die modernisierte bürgerliche Kleinfamilie zielt insofern auf Gleichberechtigung, Eigenverantwortlichkeit und Gewährung von Freiräumen – für alle Beteiligten. In dieses Geflecht wachsen die Kinder hinein, je älter sie werden. Sie übernehmen Verantwortung und damit gemeinschaftliche Aufgaben, können für sich sein und kommen immer wieder zum Gemeinsamen zurück. Auch wenn die Kinder irgendwann erwachsen sind, können sie zu diesem Gemeinsamen zurückkommen, aus freien Stücken, vertrauens- und verantwortungsvoll, soweit es denn gelungen ist, nicht im Streit auseinanderzugehen.

Kommentare ()

    Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Kommentare werden erst nach Moderation freigeschaltet.