Magazine for Sexuality and Politics

Beziehung und Beziehungsweisen

Werner Köpp

Sucht man im Internet nach dem Begriff „Beziehung“, so trifft man dort auf Äquivalenzbegriffe wie Bekanntschaft, Freundschaft, Verhältnis, Interaktion usw. Die höchste Punktzahl für passende Äquivalenz mit dem Begriff „Beziehung“ erhielt in einem Kreuzworträtsel-Portal der Begriff „Liebesverhältnis“ (wort-suchen.de, 2021). Beziehungen oder Liebesbeziehungen sind selbstverständlich in unterschiedlichen Kulturen historisch und durch voneinander abweichende Produktionsverhältnisse ungleich durch den jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungsstand geprägt. Im Folgenden soll es um Beziehung/Liebesbeziehung in den technisch entwickelten Ländern gehen.

Der allmähliche Niedergang der Aristokratie im 18. und 19. Jahrhundert ging historisch mit dem zunehmenden Aufstieg des Bürgertums und der kapitalistischen Produktionsweise einher. Die romantische Liebesbeziehung stellte in diesem Zusammenhang zwar einen ideologischen und affektiven Gegenentwurf des Bürgertums zu den bis dahin vorherrschenden Zwangsehen dar, bedeutete aber keineswegs die Aufhebung von familiären Zwangsverhältnissen, die intrafamiliär überwiegend patriarchal geprägt waren. Die Idealisierung der Liebesbeziehung und der Liebesehe entwickelte sich einerseits zum emanzipatorischen Akt gegenüber herkömmlicher Tradition, aber andererseits auch zu einer neuen, letztlich verschleierten Unterdrückungsform unter kapitalistischen Bedingungen, wobei die patriarchal geprägte Kleinfamilie zur Agentur gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse wurde.

In dem lesenswerten Mehrautoren-Buch, das Klotter (1999) herausgegeben hat, beschreibt Klotter selbst, wie ein „in die Zukunft gerichtetes irgendwie romantisches Versprechen“ (Hervorhebung im Original) zwar im Rahmen der anfänglichen Verliebtheit geschildert wird, das eigentliche Schicksal der Liebesehen jedoch nicht berichtet wird. „Die Erfahrungsmuster der Liebe sind offenkundig kulturell vorgegeben. Wenn wir heute leben, benutzen wir Bilder der Liebe, die diese Kultur zur Verfügung stellt. Auch wenn wir diese Bilder ablehnen, wir entkommen ihnen nicht. Sie sind in unseren Kopf eingefräst“ (Klotter 1999: 13). Ob man die Mythen oder Märchen unserer Kultur nimmt oder auch die Schlagerwelt, das Einander-Finden behielt über weite Strecken in idealisierter Darstellung die Oberhand (vgl. Gleiss, 2007: 20).

Im Film „Beziehungsweisen“ von Calle Overweg, der auf der Berlinale lief, werden drei von Schauspielern und Schauspielerinnen gespielte heterosexuelle Paare gezeigt, die im Rahmen ihrer Partnerschaft (vormals Liebesbeziehung) in Krisen geraten sind. Die drei Therapeut*innen im Film sind auch im wirklichen Leben psychoanalytisch und paartherapeutisch ausgebildet und arbeiten u.a. paartherapeutisch. Im Film wird gezeigt, was aus den ehemaligen Liebesverhältnissen geblieben bzw. geworden ist, was sich massiv veränderte und zum Problem geriet. Die Paartherapie bekommt im Film unausgesprochen den Auftrag, zu retten, was noch zu retten ist, oder auch - wiederum unausgesprochen - die mögliche Trennung schmerzarm zu gestalten.

Es ist auffällig, dass das scheinbar ideologische Unterdrückungsmoment der sog. Liebesehe Frauen viel heftiger als Männer betraf. So hat sich bereits seit Jahrzehnten und bis heute in der BRD im Hinblick auf den § 218 keine frauengerechte Rechtsprechung herstellen lassen. Alternative juristische Möglichkeiten aus den Gesetzbüchern der DDR fanden keine Berücksichtigung in unserem Staat. Es gibt sogar westlich orientierte, technisch entwickelte Länder, in denen Frauen hinnehmen müssen, Kinder zu gebären, die durch eine Vergewaltigung gezeugt wurden.

In der BRD gab es 1957 eine heftige Bundestagsdebatte darüber, ob der sogenannte Gehorsamsparagraf § 1354 (aus dem Jahre 1900!) des Bürgerlichen Gesetzbuches abgeschafft werden sollte. In diesem Paragrafen wurde festgelegt, dass der Ehemann über Aufenthaltsort und Aufnahme einer Berufsarbeit seitens seiner Ehefrau entscheiden kann. Dieser Paragraf stand aber in einem Gegensatz zu Art. 3 Abs. 2 des Grundgesetzes (aus dem Jahre 1949), worin es heißt: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Der Gehorsamsparagraf wurde schließlich abgeschafft.

Der Anspruch darauf, zwischen Menschen Beziehungen - darunter auch Liebesbeziehungen - selbst- und nicht fremdbestimmt zu gestalten, wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst von der Jugendbewegung aufgegriffen, die sich damit auch politisierte. Die wieder aufflammende Frauenbewegung in den 1920er-Jahren läutete einen Kampf für Selbstbestimmung und gegen § 218 StGB ein, der bis heute anhält. Auch in der Student*innenbewegung, die sich in der BRD während der 1960er-Jahre zuspitzte, spielten sexualpolitische und familienpolitische Themen sowie die Verstrickung der Elterngeneration in den Nationalsozialismus eine große Rolle. Die sprichwörtliche „sexuelle Befreiung“ in der Student*innenbewegung wurde unter den Studierenden als Loslösung von reaktionären Idealen und als Emanzipation im Klassenkampf verstanden. Mit Wilhelm Reichs Schriften wie z.B. „Die sexuelle Revolution“ aus dem Jahre 1936 gab es auch eine theoretische Grundlage dafür.

Dabei wurde zunehmend versucht, psychodynamisches Verstehen auf gesellschaftliche und politische Vorgänge an­zuwenden. Hierdurch kam es auch zur Politisierung jener, die Psy­chotherapie betrieben oder daran inte­ressiert waren. Außer Reichs Schriften wurden seinerzeit vor allem die Arbeiten klassischer linker Psychoanalytiker wie Bernfeld, Fenichel, Fromm und Simmel gelesen. Die 68er-Bewegung griff unter Benutzung psychoanalytischer Interpretationen gesellschaftliche Autoritäten, die Triebunterdrückung in der Kleinfamilie und die herrschenden Besitzverhältnisse an. Es schmälert die Verdienste dieser Protestbewegung nicht, wenn man heute - nach mehr als 50 Jahren - im Rückblick feststellen muss, dass an manchen Stellen dieser wichtigen Bewegung zunächst unmerklich, dann aber immer deutlicher jener Dogmatismus wie­derentstand, der eigentlich bekämpft werden sollte: Das betraf patriarchale Strukturen, gegen welche die Frauen innerhalb der 68er-Bewegung zunehmend aufbegehrten. Marcuse (1967) fand dafür die treffende Formulierung „repressive Entsublimierung“. Der Kampf der Student*innenbewegung richtete sich zwar gegen die Tabuisierung und Unterdrückung von Sexualität. Der damals oft zu hörende Ausspruch „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!“ zeigt jedoch - ganz im Sinne Marcuses - die neue, sich fortschrittlich gebende - auch frauenfeindliche - Repression als scheinbare Entsublimierung. Das wirft ein generelles Licht darauf, dass be­kämpfte äußere Strukturen sich zuvor un­bemerkt in den „Bekämpfern“ sedimen­tiert hatten und insofern unbewusst so­wie unabsichtlich eine Chance zur Wie­dererstehung bekamen - das Problem so vieler Revolutionen und Umwälzungen ...

Viele Ausläufer der studentischen Protestbewegung bewahrten etwas von der Freiheits- und Identitätssuche der ursprünglichen Revolte. Man konnte diese Ausläufer in den 1970er- und 80er- Jahren im mittlerweile selbstverständlich gewordenen, veränderten Denken vieler Menschen und sogar in manchen staatlichen Institutionen finden: Veränderte Erziehungspraktiken, Reformbemühungen in Bildungseinrichtungen, liberaler Umgang mit Sexualität u.v.a.m. Wahrscheinlich kann zu diesen Ausläufern auch die Entstehung der Partei der Grünen als damals noch linker Friedens- und Umweltpartei im weitesten Sinne gezählt werden. Diese Entwicklungen zeigen allerdings auch, wie flexibel unsere bürgerliche, kapitalistische Gesellschaftsordnung ist und dass sie kritisches Potenzial integrieren und gegebenenfalls auch lähmen und vernichten kann, wenn der Widerstand erst einmal erlahmt oder zerschlagen ist. Der einmal proklamierte „Marsch durch die Institutionen“ - hin zu einem neuen Ziel - verwandelt sich dann nahezu spurlos und unbemerkt in einen „Marsch in die Institutionen“ - hin zur Verwaltung überkommener Zustände.

Der Kampf um die selbstbestimmte Gestaltung verschiedener Formen zwischenmenschlicher Beziehungen ist ein Fortsetzungsroman. Die Homosexualität ist mittlerweile nicht mehr strafbar, sexuelle Kontakte zwischen Jugendlichen in deren Elternhaus führen nicht mehr zu einer Anzeige wegen Kuppelei, und sexuelle Aktivität ist nicht mehr automatisch „Unzucht“. Die Forderung des Grundgesetzes nach Gleichberechtigung der Geschlechter ist gleichwohl bei weitem noch nicht durchgesetzt. Daher leben wir in dieser Hinsicht sogar aus bürgerlicher Perspektive in einem verfassungswidrigen Zustand. Nach wie vor greifen Gesetze in das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper von Frauen ein, und Aufklärung im Internet über medizinische Maßnahmen bei Schwangerschaftsabbrüchen gilt als standeswidrige Werbung von Ärztinnen und Ärzten.

Traditionelle Formen von Liebes- und Sexualbeziehungen haben mittlerweile auch moderne Konkurrenz bekommen. Die Diversität neuer Geschlechterrollen hat dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet, und es ist vielleicht noch nicht klar zu erkennen, inwieweit hier ein größerer freiheitlicher Möglichkeitsraum entstanden ist oder ob gleichzeitig eine Entkoppelung von Beziehungsfähigkeit („togetherness“) stattfindet, die womöglich immer beliebiger und unbezogener werden könnte. Hier wird nicht unbedingt einem monogamen Lebensstil das Wort geredet; vielmehr soll über bestimmte Phänomene, wie etwa narzisstische Bestrebungen, nachgedacht werden, die sich z.B. in der Ankündigung eines Mannes zeigen, der eine virtuelle Comic-Figur heiraten will (Brigitte, 2021). Dazu gehört auch die Pornografie im Internet als virtuelle Sexualität, die zum Teil eine Art Konfiguration von Sexualpartnern und -partnerinnen nach eigenen Bedürfnissen anbietet.

Bei diesen Phänomenen wird nicht mehr „Beziehung“ ausgehandelt, sondern (wie im Song „Klonen“ der Berliner Rockband „Knorkator“) in der Fantasie ein Liebesobjekt geschaffen, das möglichst ein Abbild des eigenen (Größen-)Selbst sein soll.

Was da auf uns zukommen könnte, wurde auch in dem sehenswerten Science-Fiction-Film „Westworld“ aus dem Jahre 1973 deutlich: In einem Urlaubsvergnügungspark treffen die UrlauberInnen auf Roboter, die nicht von Menschen unterschieden werden können. Hier kann jeder und jede Held oder Heldin, Liebhaber oder Liebhaberin ohne Konsequenzen sein. Erst als die Technologie der zentral verwalteten, gesteuerten und reparierten Roboter außer Kontrolle gerät, wird aus dem Wunschtraum (nach ausschließlich selbstbestimmter Beziehungs- und Objektgestaltung) ein Albtraum …

Wie eingangs erwähnt, ist die Konstruktion der romantischen Liebesbeziehung im Zuge der Emanzipation des Bürgertums aufgetreten, teilweise aber auch im Gegensatz zur Aufklärung. In unserer Zeit verknüpft sich die Forderung, eine romantische Beziehung führen zu können, mit der Frage, inwieweit das Subjekt gesellschaftlich eingeschränkt oder emanzipiert das eigene Beziehungsleben und Beziehungserleben als Gleiches unter Gleichen gestalten kann. Dann würde der Satz „Erst kriegt frau Rosen, dann wäscht sie Hosen“ vielleicht für immer der Vergangenheit angehören.


Bibliographie:

Brigitte (2021). Japaner will Comic Figur Heiraten. https://bfriends.brigitte.de/foren/was-bringt-sie-aus-der-fassung-/101083-japaner-will-comicfigur-heiraten-2.html?s=87863c2b4ca9259a0d9a57726e0cba35 (accessed 25.10.2021).

Gleiss, I. (2007). The romantic concept of love. Journal für Psychologie, 15(1): 1-28.

Klotter, C. (1999). Liebesvorstellungen im 20. Jahrhundert – die Individualisierung der Liebe. Psychosozial Verlag.

Marcuse, H. (1967). Der eindimensionale Mensch. Luchterhand.

Reich, W. (1971[1936]). Die sexuelle Revolution. Kiepenheuer & Witsch.

Wort-suchen.de (2021). Beziehung. https://www.wort-suchen.de/kreuzwortraetsel-hilfe/loesungen/Beziehung/ (accessed 24.10.2021).

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