Magazine for Sexuality and Politics

Jenseits des schönen Scheins der neuen digitalisierten Arbeitswelt –

von der „Arbeitsdemokratie“ bei Wilhelm Reich zur zukünftigen Wirtschaftsdemokratie

Wolfgang G. Weber

Schier grenzenlose „Freiheit“ wird den Arbeitenden in Gegenwart und Zukunft der Digitalisierung der Arbeitswelt versprochen – ideologisch benutzte Schlagwörter wie „Flexibility“, „Autonomy“, „Empowerment“, „Self Leadership“, „Self Responsibility“, „Voice“, „Employee Involvement“, „Participation“ oder gelegentlich sogar „Democratic Work“ sind in fast aller (Business-School-Dozenten[1]-, Manager und Unternehmensberater) Munde – die Arbeitswelt scheint (neo- bzw. neon-)liberal erleuchtet zu werden. Das neue Freiheitsversprechen in „virtuellen“ Produktionsnetzwerken, Digitalisierung und agiler Produktion wird unterstützt durch breitflächig vernetzte „künstliche Intelligenz“, „ermächtigt“ die „Arbeitnehmer“ angeblich zu „Mitunternehmern“, häufig sogar in globalen Zuliefernetzwerken oder in der „Plattform-Ökonomie“. Solches wird seit Jahren nicht nur in Alltagsmedien oder populärer Managementliteratur am Kiosk, sondern auch in wissenschaftlichen Publikationen und Universitäten vorgetragen, wie das Handbook of Critical Management Studies vielfältig nachweist (Alvesson et al., 2009). Soweit die Verklärungen der gegenwärtigen Wirtschaftsweise und Arbeitswelten. Die mit diesen technokratischen Konzepten verfolgten Macht- und Profitinteressen scheinen allenthalben durch. Jenseits dieser Verklärungen existieren jedoch zwei Merkmale der Definition von tatsächlichem Unternehmertum, die weder von Befürwortern noch von Gegnern der kapitalistischen Wirtschaftslehre bestritten werden:

1. Eigentümerschaft an den Produktionsmitteln und

2. Entscheidungsrecht über und Verantwortung für strategische Entscheidungen.

Wer die Frage, was es im konkreten Fall, das heißt in konkreten privaten, genossenschaftlichen oder öffentlichen Unternehmen, mit den Freiheitsbehauptungen auf sich hat, wissenschaftlich seriös klären will, wird nicht daran vorbei kommen, dabei als Maßstab die beiden gerade genannten Merkmale zu verwenden. In zahlreichen Fällen wird sich dann erweisen, dass es sich bei der „grenzenlosen Freiheit“ aus Perspektive der abhängig Beschäftigten oder der pseudoselbstständigen Arbeitskraftunternehmer eher um eine „Freiheit“ für die Kapitaleigner und ihre Agenten zur „grenzenlosen“ Ausbeutung des „Humankapitals“ handelt (siehe z. B. Alvesson, et al., 2007; Weber, 2006). Gemeinsam ist diesen Arbeitsverhältnissen, die auf der Umsetzung von sogenannten neo- „liberalen“ Managementkonzepten beruhen, der Gedanke, dass Beschäftigte aller Ebenen, bis hinunter zum Fließband, nur sehr eingeschränkte unternehmerische Verantwortung übernehmen sollen. Sie werden einem permanenten Kosten- und Leistungsdruck ausgesetzt, in Lieferanten-Kundenbeziehungen gezwungen und müssen ihren Wert gegenüber der Unternehmensführung in Form von Ziel- und Leistungsvereinbarungen und regelmäßigen Evaluierungen permanent beweisen. Dabei werden sie unter Anwendung differenzierter Leistungsindikatoren in ausgefeilte Controlling- und Qualitätsmanagementsysteme eingebunden. Misslingt es dem arbeitenden Individuum, seinen/ihren ökonomischen „Wert“ als „Humankapital“ genügend zur Schau zu stellen, so droht ihm/ihr die „Freisetzung“, das heißt Entlassung oder das „Outsourcing“ als „Arbeitskraftunternehmer“ mit häufiger Verschlechterung des Einkommens und der sozialen Versorgung.

Dies bringen die begleitenden Anrufungen an die Arbeitenden und ihre Manager auch klar zum Ausdruck: „Star“ oder „Best Performers“, „Best practice“, „Excellence“, „Competitive Customer Orientation“, „Total Quality“ und, natürlich, „Added Value“ – denn um die Aneignung des von den abhängig Beschäftigten erzeugten Mehrwert geht es ja schließlich. Dies ist auch wenig verwunderlich in einer zunehmend deregulierten kapitalistischen Wirtschaft unter der Vorherrschaft von Software-, Finanz-, Energie-, Agrarchemie-, Nahrungsmittel- und anderen Großkonzernen (im Falle der russischen nationalistischen Diktatur auch gerne „Oligopole“ genannt). Die weltweite Anzahl der Milliardäre stieg übrigens im Zuge der Covid-Pandemie ungefähr um ein Viertel an (https://www.dgb.de/themen/++co...). Der von radikalkapitalistischen Ökonomen und Managementwissenschaftlern inszenierte Freiheitsdiskurs kann somit als eine neue Variante eines Phänomens betrachtet werden, welches Herbert Marcuse (1964) als repressive Entsublimierung bezeichnete. Letzteres bezog sich auf die Instrumentalisierung von „sexueller Befreiung“ für Zwecke des Marketings, der Erschließung neuer Konsumbedürfnisse und der Ablenkung von gesellschaftlichen Missständen. Hingegen zielt die neue repressive Freiheitsillusion auf die „Befreiung“, das heißt Ausnutzung des menschlichen Autonomie-, Kompetenz- und Zugehörigkeitsstrebens zum primären Zwecke der Profitmaximierung und wirtschaftlichen Dominanzsicherung ab (siehe Kasser et al., 2007) – denn wirtschaftliche Mitbestimmung und substanzielle kollektive Kapitalbeteiligung wird den Leistungserbringern in „neoliberal“ gemanagten Unternehmen nicht gewährt.

Jedoch hat sich die radikalkapitalistische („neoliberal“ ideologisch getarnte) Wirtschaftsweise (noch) nicht global-totalitär durchgesetzt, denn es existieren überall auf der Welt Inseln oder sogar Netzwerke von solidarischer Ökonomie sowie demokratischen Unternehmen im Besitz der Arbeitenden, wie sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Forschungsübersichten belegt haben (z. B. Ferreras et al., 2022; Unterrainer et al., 2022; Weber et al., 2020).

Bereits 1943 verfasste Wilhelm Reich eine psychoanalytisch beeinflusste Konzeption von Arbeitsdemokratie, welche sich der Frage widmet, wie eine von kapitalistischer, faschistischer und stalinistischer Ideologie und Unterdrückung befreite, der „natürlichen Sozialität des Menschen“ angepasste, demokratische Arbeitswelt aussehen könnte (Bennett, 2010). Sie wurde dann in seine 1946 revidierte Massenpsychologie des Faschismus integriert (Reich, 1974). Dort umschrieb er Arbeitsdemokratie als „naturwüchsiger Prozess der Liebe, der Arbeit und des Wissens“, als „die Summe aller natürlich gewachsenen, sich natürlich entwickelnden und organisch die rationalen zwischenmenschlichen Beziehungen regierenden Lebensfunktionen“ (Reich, 1974: 276 f.). Damit sich Liebe sowohl im Sinne einer nicht neurotisch oder pathologisch eingeschränkten zwischenmenschlichen Erotik und Sexualität als auch einer allgemeinen Menschenliebe, zusammen mit Kompetenzen für lebensnotwendige Arbeit sowie für lebensdienliche Wissenschaft, entwickeln kann, bedarf es gemäß Reich spezifischer gesellschaftlicher Institutionen. Diese sollen anstelle der autoritär und lustfeindlich erziehenden familiären, kirchlichen, schulischen und wirtschaftlichen Institutionen treten. Auch wenn Reichs Ausführungen nach seiner Abkehr vom autoritären Kommunismus dazu ziemlich vage sind, so orientiert er sich an einer „arbeitsdemokratischen Selbstverwaltung der Gesellschaft“ (Reich, 1974: 279, 284), nämlich von den Arbeitenden gewählten Körperschaften, in denen Produzenten und Konsumenten anstatt Politikern oder Wirtschaftskadern eng in der Planung und Verteilung dessen, was erzeugt werden soll, zusammenwirken, von der lokalen Ebene bis zur internationalen.

Trotz der von ihm analysierten Destruktionstendenzen aller damaligen Gesellschaftssysteme war Reich der Überzeugung, dass sich genügend fachlich und sozial hochentwickelte Berufsvertreter mit hohem sozialen Verantwortungsbewusstsein fänden, die die Grundlage böten für den Aufbau einer solchen demokratischen Selbstverwaltungswirtschaft, die den menschlichen Grundbedürfnissen nach Liebe, Arbeit und Wissen entspräche. Auch im Bereich von Arbeit und Unternehmen sollten autoritäre Machtverhältnisse, inklusive autokratisches oder destruktives Führungsverhalten, abgeschafft werden. An ihre Stelle träte die freie Zusammenarbeit der sich gegenseitig unterstützenden Beschäftigten entsprechend den sachlichen Erfordernissen der Herstellung von „lebensnotwendigen“ Produkten. Wir dürfen diesen Ausdruck aus heutiger Sicht als lebensdienliche Erzeugnisse im Sinne der humanistischen Wirtschaftsethik interpretieren (Ulrich, 2008). Dies galt Reich als wichtige Voraussetzung für das Gelingen einer demokratischen, nichtdestruktiven Gesellschaft. Reich erläuterte in dieser Hinsicht (1974: 327): „Die arbeitsdemokratische Lebensführung fordert das Recht jedes Arbeitenden auf Diskussion und Kritik.“ Gemeint ist konstruktive, sachlich begründete und unterstützende Kritik auf Produktionsversammlungen, die das gemeinsame Ziel der demokratisch Zusammenarbeitenden stets vor Augen hat, lebensdienliche Produkte zu schaffen.

Vor dem heutigen Kenntnisstand einer sozialwissenschaftlich fundierten kritischen Arbeits- und Organisationspsychologie wäre Manches an Reichs Vorstellungen zu kritisieren. Dies gilt z. B. für seine Annahme, dass sich Arbeitsdemokratie bereits natürlich entwickelt, wenn nur die „jahrtausendealte Unterdrückung“ der natürlichen Bedürfnisse (die „Lebensfunktionen“), insbesondere der Sexualität (Reich, 1974: 280) und die daraus erfolgende Charakterpanzerung überwunden wäre. Zu problematisieren wäre auch seine Verdinglichung von „natürlicher Arbeit“, die übersieht, dass im Laufe der Kulturentwicklung der Menschheit „naturwissenschaftliche Sachzwänge“ die Ausführung spezifischer Arbeitstätigkeiten und die Ausgestaltung spezifischer Produkte immer weniger einengen, wie sich leicht anhand von bestimmten Tätigkeiten der sozialen Dienstleistung, der Softwareerzeugung, des Produktdesigns oder des Marketings nachweisen lässt. Arbeitstätigkeiten und Produkte werden im positiven Falle ebenso durch gesellschaftliche Kriterien und Übereinkünfte der Lebensdienlichkeit und Nachhaltigkeit festgelegt wie durch biologische und physikalische Gesetze (siehe hierzu z. B. Ulrich, 2008). Insofern gehen Reichs Hoffnung einer „natürlich“ entstehenden Arbeitsdemokratie und seine späte – biographisch verständliche – Ignoranz gegenüber einer wissenschaftlichen Analyse von politisch-ökonomischen Machtverhältnissen und seine Ablehnung jeglicher Politik fehl. Schließlich unterschätzte Reich damals auch die zerstörerische Kraft etwas, die schlechte Arbeitsbedingungen wie stumpfsinnige Fließbandarbeit oder Arbeit unter hohem Zeitdruck für das psychische Befinden unabhängig von der „jahrtausendealten“ oder auch nur der familiären Unterdrückung, für die die betroffenen Arbeitenden haben können.

Ungeachtet dieser konzeptuellen Probleme kommt aber, auch aus meiner Sicht des psychoanalytischen Laien, Teilen seiner Ideologiekritik, speziell seiner Erklärung der Genese faschistischer Charaktere und seinen Vorstellungen zur Selbstverwaltung der lebensdienlichen Arbeit eine aktuelle Bedeutung zu. Dies belegen zahlreiche psychologisch relevante Forschungen im Bereich von Arbeit und Wirtschaft. Aus Platzgründen kann ich davon nur zwei Beispiele aus eigenen langjährigen Forschungsprojekten als Belege andeuten.

Zum einen bieten selbstregulierte (= „teilautonome“) Arbeitsgruppen eine Grundlage dafür, dass Arbeitende in gewissem Ausmaß ihre sozialen und geistigen Grundbedürfnisse auch in beruflicher Tätigkeit befriedigen und dabei soziale Verantwortung für den Erzeugungsprozess und das geleistete lebensdienliche Produkt übernehmen können, wie es das Konzept der Arbeitsdemokratie vorsieht. In einer selbstregulierten Arbeitsgruppe wird mehreren Arbeitenden in einem räumlich und organisatorisch abgegrenzten Arbeitsbereich eine gemeinsame Gesamtaufgabe in kollektiver Verantwortung übertragen, die der Herstellung von gemeinsam erzeugten komplexen Produkten (bzw. Dienstleistungen) dient. Die Gruppe plant, koordiniert und kontrolliert die Durchführung der erforderlichen, miteinander zusammenhängenden Teilaufgaben selbst. Sowohl durch gemeinsame Planungen und Entscheidungen als auch durch Job Rotation zwischen anspruchsvollen geistigen und ausführenden Tätigkeiten kommt jedes Gruppenmitglied auch in den Genuss von persönlichkeitsförderlichen Arbeiten (Ulich & Weber, 1996).

Das Konzept der selbstregulierten Gruppenarbeit bewährte sich in einigen europäischen und nordamerikanischen Unternehmen zunächst im Kraftfahrzeug- und Anlagenbau, später auch in der Projekt- und Verwaltungsarbeit (Moldaschl & Weber, 1998). Dem norwegischen Regierungsprogramm zur industriellen Demokratie sowie den schwedischen Arbeitsstrukturierungsprojekten bei Volvo und Saab kam eine Initialwirkung zu, die auch auf das deutsche Regierungsprogramm zur Umsetzung einer „Humanisierung des Arbeitslebens“ in den 1970er und 1980er Jahren ausstrahlte. Dieses direkt-demokratische Konzept der Gruppenarbeit breitete sich zwar nicht großflächig in Europa oder anderen Kontinenten aus. Denn restriktive Formen von Gruppenarbeit wie die „Lean Production“ sind viel leichter durch das Management im Sinne der Profitmaximierung und der Dominanzsicherung im Unternehmen zu kontrollieren. Dennoch finden sich selbstregulierte Arbeitsgruppen auch heute in manchen demokratischen Betrieben und in bestimmten Unternehmen, die komplexe Produkte in Einzelstücken oder Kleinserien herstellen.

Zum anderen bräuchte es, um Arbeitsdemokratie breitflächig zu verwirklichen, ein unterstützendes gesellschaftliches System der Wirtschaftsdemokratie, welches auf demokratisch strukturierten Unternehmen aufbaut. Darüber findet sich in den Reich’schen Überlegungen zur Arbeitsdemokratie nur wenig, außer Verweisen auf frühe Versuche in der damaligen Sowjetunion, die bald schon durch den Stalinismus zerstört wurden. Wirtschaftsdemokratie umfasst inzwischen ein vielfältiges Bündel von Modellen und Werkzeugen zur demokratischen und sozialen Regulierung von Marktwirtschaften. Wirtschaftsdemokratie strebt einen Ausgleich zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik an. Dabei sollen die vom Wirtschaften betroffenen Akteure, z. B. Arbeiter und Angestellte, Manager, Kapitaleigner, Konsumenten, Umweltschutz- und Bürgerrechtsinitiativen auf unterschiedlichen Ebenen direkt oder über gewählte Vertreter an der Regulierung wirtschaftspolitischer und betrieblicher Prozesse beteiligt werden. Sie hat somit das Ziel, Arbeitenden und weiteren Betroffenengruppen Mitentscheidung oder Selbstbestimmung auf verschiedenen Ebenen der Wirtschaft zu ermöglichen, um ihre Interessen wie Beschäftigungssicherheit, Gesundheitsschutz und Persönlichkeitsentwicklung in der Arbeit zu verfolgen. Durch „Erziehung zur politischen Mündigkeit“ im Unternehmen soll auch die gesellschaftliche Demokratie vor radikalkapitalistischen und rechtsextremen Bedrohungen geschützt werden (siehe ausführlich: Demirović, 2018; Ferreras et al., 2022; Wright, 2010). Wirtschaftsdemokratische Versuche erlangten im Zuge der demokratischen Rätebewegung in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg auch in Österreich durch die gemeinwirtschaftlichen Anstalten im „Roten Wien“ Otto Bauers, Rudolf Hilferdings und Max Adlers, durch weitere demokratische Genossenschaftsunternehmen sowie durch die Schaffung von Arbeiterkammern und Betriebsräten eine gewisse Bedeutung. Da Reich in den 1920er Jahren als Psychoanalytiker in Wien praktizierte und sich auf dem linken Flügel der Sozialdemokraten engagierte, dürfte dieses wirtschaftsdemokratische Milieu seine späteren Überlegungen zur Arbeitsdemokratie beeinflusst haben. Das schwedische Modell der Mitbestimmung und Bildung von Produktivkapital unter Mitkontrolle der Gewerkschaften („Arbeitnehmerfonds“), das in den 1970er Jahren durch konservative Politiker und Wirtschaftsverbände gestoppt wurde, war ebenfalls stark durch diese österreichischen sozialdemokratischen Ideen und deren Weiterentwiucklung durch Karl Polanyi geprägt.

Demokratische Unternehmen, z. B. basisdemokratisch entscheidende Arbeitskollektive, Produktivgenossenschaften in Belegschaftsbesitz oder Unternehmen, die gemäß dem Prinzip der repräsentativen Demokratie strukturiert sind. bilden eine wesentliche Grundlage der Wirtschaftsdemokratie. Sie ermöglichen es ihren Arbeitenden, entweder direkt in Generalversammlungen oder indirekt über gewählte Vertreter über unternehmenstaktische (z. B. Personalauswahl, Wahl von Vorgesetzten, Einkommenssystem), aber auch über strategische Entscheidungen (z. B. Unternehmensplanung, Investitionen, Gewinnverwendung) mitzubestimmen. Bislang bilden demokratische Unternehmen eine Minderheit in der Wirtschaft: Das European Committee of Worker and Social Cooperatives umfasste 2017 immerhin 50.000 Betriebe mit ca. 1,3 Millionen Beschäftigten, die beiden größten demokratischen Unternehmen in Europa sind die baskische Mondragon-Netzwerke mit circa 82.000 Beschäftigten und die britische John Lewis Partnership mit ungefähr 86.700 Beschäftigten. Die große Mehrzahl solcher Unternehmen scheint gemäß unserem systematischen Forschungsüberblick ihre demokratischen Strukturen und Praktiken auch nach Jahrzehnten aufrecht zu erhalten oder erneuern zu können (Unterrainer et al., 2022). Die Befunde eines weiteren organisationspsychologischen Forschungsüberblicks (Weber et al., 2020) deuten an, dass sich in demokratischen Unternehmen durchaus Phänomene der Arbeitsdemokratie im Sinne von Wilhelm Reich entwickeln können: Das Ausmaß, in welchem sich Arbeitende an demokratischen Entscheidungen beteiligen, geht einher mit dem von ihnen erlebten unterstützenden Arbeitsklima, ihrer Solidarität und Hilfsbereitschaft untereinander, ihrer intrinsischen Arbeitsmotivation, ihrer Bindung an ihr Unternehmen sowie ihrer bürgerschaftlichen und demokratischen Orientierung. Allerdings wurde kein Zusammenhang mit Gesundheitsaspekten gefunden.

Mit diesen zeitgenössischen Forschungen ist natürlich noch nicht bewiesen, „ob auch die Arbeit ihr Wesen so verändert, dass sie aus einer lästigen Pflicht zu einer lustvollen Bedürfnisbefriedigung werden kann“ (Reich, 1974: 256). Es bräuchte Längsschnittuntersuchungen hierzu, auf Basis einer qualitativen Methodik, die auch eine genauere Definition dessen leistet, was unter „Arbeitsdemokratie“ im psychoanalytischen Sinne zu verstehen ist. Dann kann anhand von realisierten Beispielen von Wirtschaftsdemokratie, sogenannten realen Utopien (Wright, 2010), erkundet werden, ob Wirtschaftsdemokratie nicht nur die beiden grundlegenden Lebensfunktionen der Arbeit und des Wissens fördert, sondern auch die Entwicklung besserer soziomoralischer und vielleicht sogar nichtrepressiver erotischer Beziehungen unter den Arbeitenden.

Literatur:

Alvesson, M., Bridgman, T., & Willmott, H. (Eds.) (2009). The Oxford Handbook of Critical Management Studies. Oxford (UK): Oxford University Press.

Bennett, P. W. (2010). Wilhelm Reich's Early Writings on Work Democracy: A Theoretical Basis for Challenging Fascism Then and Now. Capitalism Nature Socialism, 21 (1), 53-73.

Demirović, A. (Hrsg.) (2018). Wirtschaftsdemokratie neu denken. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Ferreras, I., Battilana, J., & Méda, D. (2022). Democratize Work. The Case for Reorganizing the Economy. Chicago: University of Chicago Press.

Kasser, T., Cohn, S., Kanner, A. D., & Ryan, R. M. (2007). Some costs of American corporate capitalism: A psychological exploration of value and goal conflicts. Psychological Inquiry, 18 (1), 1-22.

Marcuse, H. (1964). The One-Dimensional Man. Boston: Beacon Press.

Moldaschl, M. & Weber, W. G. (1998). The “three waves” of industrial group work. Human Relations, 51 (3), 347-388.

Reich, W. (1974). Die Massenpsychologie des Faschismus. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch.

Ulich, E. & Weber, W. G. (1996). Dimensions, Criteria and Evaluation of Work Group Autonomy. In M. A. West (Ed.), Handbook of Work Group Psychology (pp. 247-282). Chichester: Wiley.

Ulrich, P. (2008). Integrative Economic Ethics. New York: Cambridge University Press.

Unterrainer, C., Weber, W. G., Höge, T. & Hornung, S. (2022, submitted). Organizational and Psychological Features of Successful Democratic Enterprises: A Systematic Review of Qualitative Research.

Weber, W. G. (2006). Added Value statt menschlichen Werten? – Zur Genese von sozialer Entfremdung in Arbeit und Interaktion. Journal für Psychologie, 14 (1) 120-147.

Weber, W. G., Unterrainer, C. & Höge, T. (2020). Psychological research on organisational democracy: A meta-analysis of individual, organisational, and societal outcomes. Applied Psychology: An International Review, 69 (3), 1009-1071. http://dx.doi.org/10.1111/apps.12205

Wright, E. O. (2010). Envisioning Real Utopias. London: Verso.

[1] Weil dieser Beitrag ins Englische übersetzt werden soll, verwende ich aus Einfachheitsgründen das Maskulinum – es sind aber stets alle Geschlechter mit gemeint.

Header und Startseiten Bild: Atzeni, M. & Ghigliani, P. (2007). Labour process and decision-making in factories under workers' selfmanagement: Empirical evidence from Argentina. Work, Employment and Society, 21 (4), 653–671.

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang G. Weber, Professur für Angewandte Psychologie, Universität Innsbruck, Österreich<br>
Univ.-Prof. Dr. Wolfgang G. Weber, Professur für Angewandte Psychologie, Universität Innsbruck, Österreich

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