12 Jahre danach: Lob der offenen Beziehung
Es ist jetzt rund zwölf Jahre her, dass ich das Büchlein „Lob der offenen Beziehung“ geschrieben habe; es erschien 2010. Seither ist die Zahl der Titel auf dem deutschsprachigen Buchmarkt, die sich mit nichtmonogamen Beziehungsformen beschäftigt, stark gestiegen. Erfreulicherweise haben sich die privaten Lebensformen in vielen Teilen der Welt seither weiter liberalisiert: Immer mehr Länder öffnen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, sogenannte queere Lebensentwürfe und Transgeschlechtlichkeit sind ein Thema breiter öffentlicher Debatte geworden und finden, bei allen weiterhin vorhandenen Ressentiments, wachsende Akzeptanz; zugleich hat die „Me Too“-Bewegung das Problembewusstsein für sexistisches Verhalten und patriarchale Gewalt deutlich vorangebracht. An die Stelle einer verbindlichen Vorstellung davon, wie ein „normales“ Liebes- und Familienleben auszusehen hat, tritt mindestens tendenziell eine Offenheit für verschiedene Lebensformen, was Beziehungsmodelle einschließt. So muss auch nicht zu jeder Zeit eine sogenannte romantische Zweierbeziehung oder das Streben nach einer solchen im Zentrum des eigenen Privatlebens stehen, und Liebesbeziehungen, die nicht sexuell exklusiv sind, verlieren allmählich ihren exotischen Status. Man kann zumindest von der jüngeren Generation, die mit sozialen Medien und Dating-Apps aufgewachsen ist, nicht mehr behaupten, Monogamie gelte ihr als Selbstverständlichkeit.
Das heißt natürlich nicht, dass die Vorurteile über „alternative“, also nichtmonogame Beziehungsmodelle verschwunden wären. Und dabei sei von jenem – größeren – Teil der Welt abgesehen, in dem jeder echte oder scheinbare Zuwachs an individueller Freiheit als gefährlicher Sittenverfall bekämpft wird. Auch in den als westlich apostrophierten Ländern hinkt die Provinz der gesellschaftlichen Entwicklung der urbanen Zentren stets um Jahrzehnte hinterher; Konservative und Reaktionäre sehnen sich zurück nach den übersichtlichen, geordneten Verhältnissen, von denen sie freilich selbst nicht recht sagen können, wann sie eigentlich geherrscht haben sollen.
Konservativer Alarmismus kann die Gegenseite allerdings auch dazu verleiten, den erreichten Fortschritt zu überschätzen. Das bloße Bekenntnis zu Liberalität, mag es auch subjektiv aufrichtig sein, taugt nicht als Gradmesser persönlicher Emanzipation. Es ist leicht, über die monogame, cis-heteronormative, patriarchal-kapitalistische Matrix herzuziehen, schwerer hingegen, in den Niederungen des eigenen Beziehungslebens überkommene Muster hinter sich zu lassen.
Wenig überraschend ist es daher, dass Versuche, das monogame Beziehungsmodell zu überwinden, längst nicht immer überzeugende Ergebnisse liefern. Das verleiht einer Kritik der Kritik Auftrieb. Wo Polyamorie ein Modephänomen ist oder Monogamiekritik als Ausweis persönlicher Progressivität gilt, darf man durchaus fragen, wie weit es mit der schönen neuen Beziehungswelt her ist. Von ideologiekritischer Seite wird Polyamorie oft als Nebenprodukt des Neoliberalismus dargestellt. Solche Überlegungen sollte man ernst nehmen, ohne deshalb Monogamie zu idealisieren. Gleichzeitig muss man den Blick für die realen Verhältnisse bewahren: Monogamie ist nach wie vor die weithin dominierende Norm, und die Tendenz, Abweichungen von dieser Norm als fragwürdiges, rechtfertigungsbedürftiges Experiment zu betrachten, ist hartnäckig.
In manchen Kreisen herrscht denn auch der Eindruck vor, dass bei Versuchen mit nichtexklusiven Beziehungsformen am Ende doch selten Gutes herauskomme. Doch anekdotische Argumentation lässt sich auf die eigentliche Frage – wie nämlich Beziehungen geführt werden sollten – gar nicht erst ein. Egal welche Position man vertritt, es ist nie schwierig, die Gegenseite anhand wenig schmeichelhafter Beispiele als verkorkst und irregeführt erscheinen zu lassen. Richtig ist gleichwohl auch, dass viele, die mit nichtexklusiven Beziehungsformen experimentieren, dies aus fragwürdigen Gründen und mit mangelnder Überlegung tun. Monogamie ist nicht einfach eine lustfeindliche Zwangsjacke, die wir nur abwerfen müssten, um uns den Weg in ein Schlaraffenland der freien Liebe zu eröffnen. Kein Beziehungsmodell kann uns davon erlösen, dass es schlicht nicht einfach ist, dauerhafte intime Beziehungen zu führen.
Unsere ganze Beziehungskultur, unsere Sprache, unsere Verhaltensmuster und eben auch unsere Gefühle sind tief von monogamen Normen geprägt. Sich davon zu emanzipieren, ist ein langer und teils mühsamer Prozess. Es erfordert, den Umgang mit Partnerschaft, mit Sexualität, miteinander und mit den eigenen Gefühlen zu hinterfragen und in erheblichem Ausmaß umzugestalten, ihn bis zu einem gewissen Grad neu zu erlernen. Der Antrieb hierfür kann nicht aus dem bloßen Lustversprechen freier Liebe kommen. Denn wer vor allem nach individueller Lustmaximierung strebt, wird sich letztlich konservativ verhalten: Selbstreflexion, Arbeit an sich selbst ist nicht lustvoll; bequemer ist es, die Schuld für Probleme bei anderen oder bei den Verhältnissen zu suchen. Generell sollte jede Entscheidung für ein Beziehungsmodell auch eine Entscheidung zur Selbstkritik sein, denn andernfalls wird man sich, gleich in welchem Beziehungsmodell, als rücksichtsloser, egoistischer Partner erweisen, als jemand, dessen Liebe ihre Grenzen nicht aus der Würde und Freiheit des anderen ableitet, sondern aus dem eigenen Narzissmus. Monogamiekritik als emanzipatorisches Unterfangen muss sich aus einem fundamentalen Ungenügen mit den überkommenen Mustern speisen, das tief genug reicht, um diese auch im eigenen Verhalten überwinden zu wollen.
Wie das Erbe der Monogamie die Perspektive verzerrt, lässt sich an dem nach wie vor populären Missverständnis illustrieren, nichtexklusive Beziehungsformen würden der Sexualität einen besonders hohen Stellenwert beimessen. Betrachtet man die realen Probleme der meisten Beziehungen, spielt Sexualität häufig eine kleinere Rolle, als Eifersuchtsdramen und romantische Komödien erwarten lassen könnten. Selbst wenn jemand fremdgeht oder sich in eine weitere Person verliebt, gehen dem meist andere Probleme voraus – Probleme, die mehr oder weniger unabhängig vom Beziehungsmodell auftreten: Konflikte im Alltagsleben, unvereinbare Temperamente und Kommunikationsformen oder auch schlicht, dass Verliebtheit abklingt und nicht genug Verbindendes zurückbleibt, um das Paar zusammenzuhalten. Muss man sich die Sache durch Verhältnisse mit Dritten noch komplizierter machen? Und überhaupt, wollen nicht die meisten, wenn sie verliebt sind, ohnehin nur mit der einen geliebten Person zusammen sein? Wozu also offene Beziehungen, wenn man nicht eine außergewöhnlich ausgeprägte Neigung zum „Herumvögeln“ hat? Vielleicht kann man ja in einigen Jahren darüber nachdenken, die Beziehung zu öffnen, wenn Vertrautheit eingekehrt und das erste stürmische Begehren sich beruhigt hat.
Eine solche Denkweise behandelt nichtexklusive Beziehungsmodelle (bestenfalls) als eine Art Reperaturservice, den man in Anspruch nimmt, wenn und weil die Monogamie in einer Beziehung Probleme bereitet. Im Kern bleibt Monogamie dabei die unhinterfragte Norm. Stattdessen wäre auch die Monogamie darauf zu prüfen, wie plausibel sie die grundlegende Frage beantwortet, wie Beziehungen zu führen sind. Monogame Liebesbeziehungen zeichnen sich aber vor allem durch eines aus: sexuelle Exklusivität. Es ist also die Monogamie, die der Frage, wer mit wem Sex hat, ganz besondere Bedeutung zuschreibt. Eine offene Beziehung ist dagegen zunächst einmal nur eine Beziehung, die genau das nicht tut – die keinen allgemeinen Grund sieht, Liebesbeziehungen auf spezielle Regeln über sexuelle Verhältnisse mit Dritten zu gründen. Ein nichtexklusives Arrangement beinhaltet selbstverständlich keine Pflicht, eine bestimmte Quote an Nebenbeziehungen zu erfüllen. Die Begründungslast liegt also auf der monogamen Seite: Es braucht keine besondere Rechtfertigung dafür, einem geliebten Menschen das Recht zu „gewähren“, seine Beziehungen mit Dritten frei zu gestalten; rechtfertigungsbedürftig ist es umgekehrt, dieses Recht fundamental einzuschränken. Nicht die nichtexklusiven Beziehungsformen sind als Konsequenz eines starken Bedürfnisses nach promisker Sexualität zu verstehen, sondern die Monogamie als Ausdruck eines starken Bedürfnisses nach sexueller Ausschließlichkeit.
Wer zu sexueller Eifersucht neigt und diese auch nicht überwinden kann oder will, für den mag Monogamie die einfachste, praktikabelste Beziehungsform darstellen. Gleichwohl lässt sich fragen – nicht einmal nur, warum man so eifersüchtig ist, sondern vielmehr, warum sich diese Eifersucht gerade an Sexualität derart entzündet. Hier ist daran zu erinnern, dass eine monogame Beziehungskultur auch unsere Gefühle prägt. Wie viel von dieser speziell auf Sexualität bezogenen Eifersucht in einem nichtmonogamen Rahmen auf Dauer fortbesteht, kann nur der Versuch zeigen. Denn was sich als Fremdgehen in der Monogamie wie eine Verletzung anfühlt, weil es eben eine Verletzung des monogamen Treueversprechens ist, muss sich nicht ebenso anfühlen in einer Beziehung, in der es mangels eines Exklusivitätsanspruchs gar kein Fremdgehen geben kann.
Die Spannung zwischen dem monogamen Anspruch der Liebespartner auf „wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften“ (Kant) und einem aufgeklärten, unverklemmten, liberalen und lustfreundlichen Verhältnis zu Sexualität liegt auf der Hand. In der Monogamie bleibt Begehren stets eine potentielle Versuchung, bleibt Sexualität im Kern etwas Sündhaftes. Auf die Ausflucht, am „Fremdgehen“ sei nicht eigentlich der Sex das Schlimme, sondern der Betrug, der Vertrauensbruch, kann man sich nicht zurückziehen, denn ob man Sex mit Dritten von vornherein zum Betrug, zum Vertrauensbruch erklärt oder nicht, ist ja gerade, was zur Debatte steht. Wenn Sex an sich etwas Unschuldiges wäre, warum sollte man ihn dann verbieten? Die Exklusivität wird ferner mit Verlustangst gerechtfertigt, aber keine argumentative Verrenkung kann darüber hinwegtäuschen, dass Verlustangst niemals ein allgemeines Verbot von Sexualkontakten rechtfertigen kann; es sind schlicht Sexualkontakte mit Dritten möglich, die keine Gefahr für den Fortbestand einer Beziehung darstellen – wenn sie man nicht eigens durch Monogamie dazu macht.
Auf die Frage, warum in der Monogamie gerade die Sexualität eine solche Sonderstellung einnimmt, gibt es keine andere Antwort als die historische: Die soziale Funktion von Monogamie bestand in der Kontrolle und Einhegung der Sexualität. Die implizite Sexualfeindschaft wird verdrängt, das eigene problematische Verhältnis zur Sexualität auf andere projiziert, wenn gerade jene, die auf den in jedem anderen Bereich undenkbaren Exklusivitätsanspruch verzichten, mit der Frage konfrontiert werden, warum ihnen Sex so wichtig sei.
Sexualität ist ein normaler Bestandteil zwischenmenschlicher Beziehungen. Mit pawlowscher Unvermeidlichkeit provoziert diese Feststellung bei Monogamisten die Replik: Aber man will doch nicht mit jedem, ja nur mit den wenigsten ein sexuelles Verhältnis haben. Ja sicher – und? Nur im alten lustfeindlichen Mythos muss Sexualität zwangsläufig in uferloses, unkontrollierbares Verlangen umschlagen, sobald die Schranken der Sittlichkeit gelockert werden. Tatsächlich stellt sich eine ganz andere Frage: Wenn die von mir geliebte Person die Gelegenheit hat, ein an sich erwünschtes sexuelles (oder sonstiges) Verhältnis einzugehen, was sollte ich dann dagegen haben, dass sie dieser Neigung nachgeht? Diese Frage stellt sich umso mehr, je seltener solche Gelegenheiten sind. Sollte ich meinen Stolz nicht darein setzen, emotionale Sicherheit und Rückhalt, im Idealfall auch Anteilnahme und Mitfreude zu bieten, um es meiner geliebten Person zu erleichtern, sich auf solche Abenteuer einlassen und sie zu genießen? Sollte Liebe nicht Bereicherung statt Versagung, nicht Wohlwollen statt Missgunst hervorbringen?
Man muss sich erst daran gewöhnen, die Dinge von einem nichtmonogamen Standpunkt aus zu betrachten. Das betrifft nicht nur Liebesbeziehungen, sondern den Umgang mit Sexualität – und also mit anderen Menschen – insgesamt. In einer monogamen Kultur erhält die Frage, ob ein Verhältnis sexuell ist oder nicht, fundamentale Bedeutung für den Status dieses Verhältnisses. (Übrigens ist dies ein Einwand, den man gegen den Begriff Polyamorie erheben kann: Er begünstigt den falschen Eindruck, es gehe nur darum, wie wir unsere Liebesbeziehungen führen.) Insbesondere Freundschaften müssen platonisch sein, weil sie sonst nicht mit Liebesbeziehungen vereinbar wären. Zwar gibt es das Konzept der „friends with benefits“ – schon die seltsame Begriffsbildung lässt vermuten, dass hier etwas nicht stimmt –, doch wie soll man mit einer solchen Freundschaft verfahren, wenn die nächste monogame Beziehung beginnt? Mindestens müsste man sie auf platonischen Status zurückstufen, aber selbst wenn das keine Verwerfungen in der Freundschaft erzeugen sollte – ist das genug? „X und ich stehen uns nahe, aber keine Sorge: Seit du und ich zusammen sind, haben wir aufgehört, Sex zu haben!“ Eine solche Ansage dürfte einem konfliktfreien Verhältnis zwischen dem neuen Partner oder der neuen Partnerin und jener nunmehr benefitlos befreundeten Person X nicht in jedem Fall zuträglich sein. Dann doch besser verheimlichen, dass jene Freundschaft auch ein sexuelles Verhältnis war? Unehrlichkeit erscheint zwar nicht gerade als guter Start in eine neue Beziehung, aber die Auffassung ist durchaus verbreitet, dass Monogamie es eben erfordere, manchmal nicht ganz ehrlich zu sein – was man freilich als Argument gegen Monogamie betrachten könnte. Ein Problem bleibt es jedoch, wenn einmal die Wahrheit herauskommen sollte.
Wie man es dreht und wendet, wenn Freundschaften und monogame Liebesbeziehungen einander nicht ins Gehege kommen sollen, müssen Erstere platonisch sein. Somit führen die Erfordernisse der Monogamie dazu, dass Sexualität tendenziell nur in zweierlei Rahmen praktikabel erscheint: entweder in romantischen Zweierbeziehungen oder aber, wenn nicht in völliger Unverbindlichkeit, so doch in Beziehungen, in denen nichts außer der Sexualität stabile Bedeutung erlangen kann. Wo Sexualität also nicht im Dienst „echter“ Liebe steht, erscheint sie somit als etwas, wofür man den anderen benutzt und sich benutzen lässt; wo Sex nicht durch Liebe geheiligt wird, erniedrigt er.
Das wird meist vergessen, wenn die in Diskussionen über nichtexklusive Beziehungsformen einigermaßen unvermeidliche Frage aufkommt, wie reizvoll und wünschenswert „Sex ohne Liebe“ eigentlich sei. Es ist ja kein Naturgesetz, dass Sexualität außerhalb von festen Liebesbeziehungen nur in unverbindlichen, emotional distanzierten, tendenziell kurzfristigen Verhältnissen einen Platz kann. Wer Sex mit mehr oder weniger Fremden besonders reizvoll findet, der möge dieser Neigung selbstverständlich nachgehen; dass wir aber fast automatisch über solchen Sex reden, wenn wir über über Sex außerhalb von Beziehungen reden, ist ein Ergebnis, keine Rechtfertigung der monogamen Sexualkultur. Wenn wir also über nichtexklusive Beziehungsformen reden, geht es nicht nur um einen anderen Umgang mit Liebesbeziehungen, sondern um einen zumindest potentiell anderen Umgang mit Sexualität überhaupt. Zwischen (oder jenseits von) romantischer Zweierbeziehung, platonischer Freundschaft und unverbindlicher Affäre gibt es einen ganzen Raum von möglichen Beziehungsformen, für die wir in unserer Gesellschaft weder über Begriffe noch über etablierte Umgangsformen verfügen. Monogamie bestimmt eben gerade nicht nur die Form der einen Liebesbeziehung, sondern ex negativo die Form aller anderen Beziehungen (als das Exklusivitätsgebot wahrende).
Die Aussicht, nun auch noch Freundschaften mit den ganzen Komplikationen und Schwierigkeiten zu belasten, die mit sexuellen Verhältnissen einhergehen, mag vielen eher als Argument für die Monogamie erscheinen. Berechtigt ist allemal der Hinweis, dass in patriarchal geprägten Gesellschaften Normen, die bestimmte Beziehungsformen von vornherein als nichtsexuell definieren, gerade für Frauen eine Schutzfunktion erfüllen, indem sie mehr oder weniger von Zudringlichkeiten („Aber warum denn nicht?“) entlasten. Das ist nicht zu vernachlässigen, es bleibt allerdings ein Arrangement mit dem Elend des Patriarchats, während das Ziel doch dessen Überwindung sein muss. Wiederum greift die Vorstellung zu kurz, es gehe darum, den Status quo der monogam geprägten Beziehungsformen abzuwandeln, indem nun auch noch Freundschaften „sexualisiert“ würden. Die Vorstellung, es gebe eine Art primäre asexuelle Unschuld zwischenmenschlicher Beziehungen, ist selbst Ausdruck der patriarchalen Sexualfeindschaft. Wir alle sind sexuelle Wesen (auch Aces – was in diesem Sinne als Asexualität bezeichnet wird, ist in einem umfassenderen Sinne eine weitere Ausprägung von Sexualität), und das sollte kein Anlass zu Scham sein. Alle zwischenmenschlichen Beziehungen haben in diesem Sinn, als Beziehungen zwischen sexuellen Wesen, auch eine sexuelle Dimension – wenn diese auch meist nur in der impliziten Übereinkunft bestehen wird, dass Sexualität in diesem Verhältnis keine Rolle spielen soll.
Es versteht sich, dass eine lustfreundliche Sexualkultur auf dem Konsensprinzip beruhen muss. Was manchmal als rape culture apostrophiert wird, ist nicht zuletzt ein zur Legitimation von sexuellen Übergriffen verwendetes Statusdenken: Man schreibt dem eigenen Verhältnis zur anderen Person einen Status zu, aus dem man einen Anspruch auf sexuelle Handlungen ableitet. Beim Umgang mit Sexualität sollte das Statusprinzip dem Konsensprinzip grundsätzlich nicht entgegenstehen, sondern es nur dann ersetzen, wenn ein Machtungleichgewicht die Möglichkeit von Konsens untergräbt. Dann müsste es auch nicht mehr den ganzen Status einer Beziehung umwerfen, wenn in ihr sexuelle Begegnungen stattfinden – oder aufhören stattzufinden. Zur Überwindung des Sexualtabus gehört auch die Einsicht, dass Sexualität nicht immer mit großem Drama und der Gefahr tragischer Zerwürfnisse einhergehen muss – dass sie auch harmlos und beiläufig sein kann.
All dies setzt nur Entwicklungen fort, die ohnehin längst im Gang sind und dort, wo sie nicht die Diskussion über Monogamie berühren, unter vernünftigen Leuten auch einigermaßen einhellig als Fortschritt gelten: Früher wurde noch viel radikaler geschieden zwischen Beziehungen, in denen Sexualität möglich ist, und solchen, in denen das nicht der Fall ist. Man denke daran, dass gemischtgeschlechtliche Freundschaften lange kaum möglich waren (was unter anderem auch mit dem Schutz der Frauen vor männlicher Bedrängnis begründet wurde); man denke daran, in welchem Maß noch vor wenigen Jahrzehnten viele Heterosexuelle den Umgang mit gleichgeschlechtlichen Homosexuellen als irritierend, wenn nicht abstoßend empfanden, weil deren Homosexualität, noch vor jeder Frage nach konkretem, individuellem Begehren, die Fiktion der kategorischen Asexualität gleichgeschlechtlicher Beziehungen untergrub.
Das Sexualtabu zu überwinden, ist ein langwieriger Prozess, der nun schon seit mehreren Generationen andauert und noch weitere Generationen andauern wird. Zu hoffen und anzustreben ist, dass wir uns einer Sexualkultur nähern, in der wir mit Sexualität tatsächlich umgehen können wie Erwachsene, für die Sexualität eben ein normaler Teil des Lebens ist – ein Aspekt zwischenmenschlicher Beziehungen, den konsensuell zu gestalten eine selbstverständliche Freiheit ist. Die Idee, andere, zumal Geliebte, darauf einzuschwören, diese Freiheit bei Strafe des Liebesentzugs aufzugeben, muss dann allerdings kurios erscheinen.
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